News aus dem Thurgau

Randständige: Wo und wie begegnen sie uns?

von Ernst Ritzi
min
13.11.2023
Im Zusammenhang mit offener und verdeckter Armut in unserer Gesellschaft reden Fachleute von «Randständigen». Die Kirchen tragen im Umgang mit ihnen eine besondere Verantwortung.

Die Studie «Kirchliche Tätigkeiten mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung im Kanton Zürich» vom Juni 2017 hat gezeigt, dass die Öffentlichkeit von den Kirchen neben der «Seelsorge» auch die Rolle einer «Sorge für die Armen» erwartet: «Die Kirche geniesst Akzeptanz, wo sie sich ohne Vorbedingung um jene Menschen sorgt, die durch die sozialen Netze fallen, und in jenen Notlagen Hilfe anbietet, wo sich unser ausgebautes Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem dennoch als nicht genügend tragfähig erweist. Wobei die Notlagen nicht nur rein materieller Natur sind, sondern oft auch eine psychische und eine spirituelle, also geistliche Komponente enthalten. Von den Kirchen wird dabei auch eine Stellvertretungsfunktion erwartet: Da, wo ‹ich› als Individuum nicht helfen kann, aber wo ich finde, dass ‹jemand› helfen sollte, da soll die Kirche einspringen.»

Wie Kirchgemeinden sich um Randständige kümmern
Viele Thurgauer Kirchgemeinden kümmern sich konkret um Randständige. Die meisten Pfarrämter verfügen über eine Spendenkasse, aus der sie im Einzelfall – etwa durch die Abgabe von Essensgutscheinen – Hilfe leisten können. Die Katholische Kirchgemeinde Arbon schreibt auf ihrer Webseite: «Wir, die Kirche bieten euch Hilfe an. Sei es für Kinder, Jugendliche, ältere Menschen, für Randständige und Einsame. Wir sind da für Menschen, welche in der Gesellschaft verloren gehen.» Konkret erwähnt werden: Budget- und Schuldenberatung, Hilfe beim Ausfüllen von Formularen und Unterstützung für Kinder und Jugendliche, damit diese an einem Schullager oder einer Weiterbildung teilnehmen können.

Die Redaktion des Kirchenboten hat zwei Fachpersonen aus dem Sozialbereich gefragt, was sie unter Randständigkeit verstehen, wie sie in ihrem Berufsalltag in Erscheinung tritt und was Randständige ihrer Meinung nach von der Gesellschaft erwarten.

 

Das meinen Mathias Dietz und Cornelia Hauser:

 

Wegstück mit Hilfesuchenden gehen

Mathias Dietz, Diakon der Kirchgemeinde Aadorf-Aawangen

«Vor kurzer Zeit stand ich am Stand der ‹Weihnachtspäckliaktion›, als ich von einem ziemlich aufgebrachten Mann angesprochen wurde. Er gebe gar nichts ins Ausland, denn wir hätten in der Schweiz auch ‹Working Poor› (Menschen, die trotz regelmässiger Arbeit zu wenig zum Leben haben). Ja, da hat er natürlich recht und ich antwortete ihm, dass wir uns unbedingt auch für diese Menschen einsetzen müssen. Nur geschehe dies von Seiten der Kirchen eben nicht so in der Öffentlichkeit wie diese Päckliaktion.

Da ist die Frau, die Krankenkassenausstände hatte und deshalb nicht in ein neues Versicherungsmodell wechseln konnte. Wir konnten durch ein zinsloses Darlehen ihre Schulden begleichen und sie sparte in den kommenden Jahren einige hundert Franken bei einer neuen Krankenkasse (mit der gleichen Leistung). Auch habe ich schon mehrere Gesuche bei OHO (Ostschweiz hilft Ostschweiz) eingereicht, und zusammen mit einem Beitrag aus unserer Spendenkasse konnte eine dringend nötige Zahnsanierung gemacht werden. Ich darf Karten von ‹Tischlein deck dich› abgeben, und auf Wunsch begleite ich Menschen zu Ämtern und sozialen Institutionen.

Es ist mir ein Anliegen, nicht nur Geld zu verteilen – ich möchte immer auch ‹ein Stück Weg mit den Hilfesuchenden gehen›. Und es ist mir wichtig, dass sich niemand randständig fühlen muss. Jeder Mensch gehört mitten in die Gesellschaft, ist Teil unserer Gemeinschaft, soll Beachtung, Fürsorge und Wertschätzung erfahren!»

Jung und durch das soziale Netz gefallen

Cornelia Hauser, Naturheilkundepraktikerin, Lehrerin, Weinfelden

«Täglich flattern Spendenaufrufe in alle Haushalte. Nonprofitorganisationen sammeln für Menschen und Tiere in Krisengebieten, schwierigen Lebenssituationen oder bedrohlichen Gesundheitsbedingungen.

In meinem Freundeskreis gibt es Menschen, die an der Armutsgrenze leben. Schweizerinnen und Schweizer, im Thurgau, in meinem Umfeld. Nicht etwa, weil sie sich dieses Schicksal selber ausgesucht haben, sondern weil sie durch widrige Umstände durch unser Sozialnetz gefallen sind. Die meisten von ihnen sind jung, haben eine abgeschlossene Berufsbildung, kommen aus einem sogenannt guten Elternhaus. Psychische Probleme und die Angst, den gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu genügen, lassen sich mit Alkohol, Medikamenten und anderen Drogen betäuben. Einmal drin in der Sucht, lässt sich die Abwärtsspirale kaum mehr aufhalten.

Die alleinstehende K. hat sich Unterstützung geholt. Sucht- und Psychotherapie greifen. Sie lebt von der Sozialhilfe. Ihre Wohnung darf höchstens 600 Franken pro Monat kosten, Essen bezieht sie über die Lebensmittelhilfe, für den täglichen Bedarf erhält sie 80 Franken pro Woche. Ein Bekannter mit «Borderline» benutzt ab und zu ihr Bad. Er hat keinen festen Wohnsitz, aber eine geregelte Arbeit. Für ihn ist die Scham zu gross, um Hilfe zu bitten.

Trotz guter Aussichten, wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken, bleiben meist erhebliche Schulden beim Sozialamt und ein Stigma, das Leben nicht alleine bewältigen zu können. Helfen wir mit Akzeptanz statt Vorurteilen.»

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