News aus dem Thurgau

«Religionen sind nicht vom Himmel gefallen»

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10.11.2016
Amira Hafner-Al Jabaji hat kürzlich den Fischhof-Preis für ihr Engagement für einen respektvollen Dialog unter den Religionen erhalten. Während der Woche der Religionen tritt die Sternstunde-Moderatorin an mehreren Veranstaltungen auf. Gerade beim Thema Burka und Schleier gehen die Emotionen hoch. Man solle nicht das Beste der eigenen Religion mit dem Schlechtesten der anderen vergleichen, sagt Amira Hafner-Al Jabaji und plädiert für eine faire Debatte.

Frau Hafner-Al Jabaji, Burkaverbot und Schleier. Statt über den Glauben ereifert sich Politik und Gesellschaft über die Rolle von Frau und Mann in den Religionen. Warum?
Das Verhältnis von Mann und Frau ist ein Dauerthema, egal ob religiös oder nicht religiös konnotiert. Gerade erleben wir in der Schweiz eine Sexismus-Debatte. Das Geschlechterverhältnis bleibt eine Herausforderung, der sich alle zu stellen haben.

Trotzdem: Die Rolle der Frauen scheint in den Religionen vor allem negativ besetzt. Ist dieses Bild berechtigt?
Religionen sind nicht vom Himmel gefallen. Etliche Traditionen und Ansichten widerspiegeln mehr die patriarchalen Verhältnisse, in denen die Religionen entstanden sind, als dass sie mit ihren Glaubensgrundsätzen und dem Gebot der Gerechtigkeit übereinstimmen. Die Menschen sind nicht in erster Linie Kinder ihrer Religionen, sondern Kinder ihrer Zeit und ihrer Umstände – und die ändern sich bekanntlich dauernd. Tatsächlich werden die althergebrachten Geschlechterverhältnisse oft mit Religion begründet und so zementiert.

Und so werden Religionen an den gesellschaftlichen Aspekten gemessen. Der Islam oder Hinduismus ist schlecht und diskriminierend, wenn Frauen nicht Auto fahren dürfen.
Man muss sich von der Vorstellung lösen, eine Religion sei per se gut oder schlecht. Jede Religion hat ihre Geschichte, ihre Ideale, ihre Weisheit, ihre menschenfreundlichen, aber eben auch ihre menschenfeindlichen Aspekte. Ausserdem: Saudi-Arabien ist das einzige muslimische Land von insgesamt über fünfzig Staaten, das Frauen das Autofahren verbietet. Die Logik verbietet es hier, einen Rückschluss auf «den Islam» zu machen.

Wird bei dieser Diskussion vergessen, dass im Westen das Rollenbild vieler Frauen vor 50 Jahren nicht viel anders aussah?
Ja, es fehlt das Bewusstsein für die Zeitachse und das Bewusstsein für die unterschiedlichen Milieus. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Meine Mutter, Jahrgang 1936, wuchs auf dem Land in einer protestantischen Familie in Deutschland auf. Ihre Eltern hielten sie vom regelmässigen Schulunterricht ab. Für ein Mädchen sei Schulbildung nicht vordringlich, hiess es. Mein Vater hingegen, Jahrgang 1938, wuchs in einer urbanen, gebildeten muslimischen Familie in Bagdad und Basra auf. Es war selbstverständlich, dass alle Kinder studierten, Jungs und Mädchen. In welcher Kultur und Religion verorten wir nun Frauenfeindlichkeit und Rückständigkeit?

Wie könnte ein positiver Ansatz im Dialog über die Rolle der Geschlechter aussehen?
Gleiches muss mit Gleichem verglichen werden. Man sollte nicht das Beste der eigenen Religion oder Gesellschaft dem Schlechtesten der anderen gegenüberstellen. Wenn wir gemeinsam und kritisch als Musliminnen und Christinnen Bibel und Koran lesen, entdecken wir in beiden frauenfeindliche wie auch frauenfreundliche Stellen.

Geschieht dies auch?
Ja, sowohl im Judentum, im Christentum und auch im Islam sind seit Jahrzehnten Bestrebungen im Gang, die Schriften frauenfreundlich zu lesen und frauenfeindliche Interpretationen als Menschenwerk beziehungsweise Männerwerk zu entlarven. Wer diese Bestrebungen ignoriert und stets auf diskriminierende Traditionen verweist, verkennt das befreiende Potenzial von Bibel und Koran und hilft mit, dass alles beim Alten bleibt. Das gänzlich negative Bild von Frauen in Religionen haben vor allem jene, die sich selten bis nie mit Religion, ganz egal welcher, befassen.

Die islamische Welt verändert sich rasant. Wie sieht die Rolle der Frauen in fünfzig Jahren in den islamischen Ländern aus?
Heute herrscht hier bei uns ein undifferenziertes Bild über das Leben in muslimischen Ländern und insbesondere das der Frauen. Die Unterschiede in jeder Gesellschaft sind immens. Tatsache ist, auch in Europa hat sich das Leben der Frauen durch zwei Faktoren erheblich verbessert: Bildung und Wohlstand. Wenn sich diese auch in den muslimischen Ländern entwickeln, dann stehen die Chancen gut, dass sich etwas Positives für die Frauen verändert.

Tilmann Zuber / Kirchenbote / 10. November 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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