News aus dem Thurgau

«… keine Ahnung …»

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11.02.2017
«Ich habe keine Ahnung, wann meine Mutter mich zum letzten Mal erkennen wird», sagt der Sohn einer demenzkranken Frau. Dieser Mitarbeiter einer Thurgauer Kircheninstitution gibt uns einen Einblick in eine betroffene Familie.

Von David Gysel

Einmal nahm sie sich – nennen wir sie Sabine – Zeit, in der Stadt etwas Spezielles einkaufen zu gehen. Mit Erstaunen merkte ihr Mann am Abend, dass sie etwas gekauft hatte, das sie gar nicht wollte. Und von einem Hausierer liess sie sich einen teuren Gegenstand verkaufen, den sie weder brauchte noch wünschte. Sie konnte beides nicht erklären. Sabine litt früher unter Depressionen und hatte deshalb Medikamente zu nehmen. So lag bei den Angehörigen der Gedanke nahe, die neuen Ereignisse könnten auf die Medikamente zurückzuführen sein. Jedoch häuften sich die Gedankenausfälle bei der 55-Jährigen ganz langsam, und ihr Mann wusste mit der Zeit öfters nicht, was ihn nach der Rückkehr von der Arbeit erwartete. Sabine, die ihre Entwicklung kaum realisierte, stellte nur mit der Zeit irritiert fest: «Mein Mann verbietet mir immer mehr Dinge.» Dass er zu ihrem Schutz handeln musste, konnte sie nicht erkennen.

Familie als Stütze

Eine ärztliche Untersuchung brachte dann die Diagnose: Demenz, genauer gesagt Alzheimer (siehe auch Kasten). Peter, so nennen wir den Sohn, bewundert seinen Vater, wie dieser mit viel Umsicht und Geduld nun schon 14 Jahre Sabine auf ihrem Krankheitsweg begleitet. Peters Vater konnte Sabine vor seiner Pensionierung nicht laufend betreuen. Ein Umzug der Eltern ins Nachbarhaus von Peters Schwester ermöglichte es, dass Sabine mindestens bis zur Pensionierung ihres Mannes zu Hause bleiben konnte. Die Familie spielte so eine entscheidende Rolle für das Wohlergehen von Sabine. Auch die neue Kirchgemeinde nahm sie freundlich auf.
Mittlerweile ist der Vater pensioniert. Aber seit einigen Monaten übersteigt die Pflegebedürftigkeit die privaten Möglichkeiten, und Sabine ist jetzt in einem Heim. In den ersten Wochen bat sie ihn bei jedem Besuch, sie doch wieder mit nach Hause zu nehmen. Dies waren für ihn schwere Momente. Jetzt freut sie sich einfach über seine täglichen Besuche, realisiert aber die Zeitabstände nicht mehr. Wenn sie jetzt von «zu Hause» spricht, spricht sie vom Haus ihrer Kindheit, als wenn dies gleich nebenan wäre.

Glaube als Stütze

Manchmal, wenn Sabine merkte, dass in ihr eine gesundheitliche Veränderung vorging, stieg in ihr die Frage auf: «Gott, wenn du doch heilen kannst, warum tust du es denn nicht?» Und sie war manchmal traurig, dass sie bei gewohntenAufgaben in der Kirchgemeinde nicht mehr mithelfen konnte. Ihr Glaube an den Gott der Bibel zerbrach aber weder an den vorangehenden Depressionen noch an den neuen Einschränkungen. Auch Peters Vater wurde an diesem Gott nicht irre, und er fand im christlichen Glauben immer wieder Halt und Orientierung. Sabine entspricht nicht dem Schema der modernen Leistungsgesellschaft. Ihr Ehemann liess dadurch seine Treue zu ihr aber nie in Frage stellen.

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