News aus dem Thurgau

«Im Zentrum unseres Lebens steht die Versöhnung»

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27.11.2017
Die Offenheit ist eines der Kennzeichen von Taizé. Seit neuestem auch gegenüber den Muslimen. Frère Alois erklärt warum.

Frère Alois, Sie waren letzthin in Ägypten, im Sudan und Südsudan.
Ich kannte keines der drei Länder. Wir haben in Ägypten Kontakt zu einem koptischen Bischof, der vor zwanzig Jahren in Taizé war. Als wir die Kopten fragten, wie wir sie unterstützen können, sagten sie uns: «Besucht uns!» So sind wir mit einhundert Jugendlichen aus Europa nach Ägypten gereist und haben uns dort mit jungen Ägyptern getroffen. Sie forderten uns auf, uns stärker den Christen im Nahen Osten zuzuwenden. Ich denke, dem dürfen wir uns nicht verschliessen.

Sie sind dann weiter in den Sudan und Südsudan gereist. Warum?
Seit mehreren Jahren nehmen wir in Taizé Flüchtlinge aus diesen Ländern auf. Sie sind Muslime, und ich wollte das Land kennenlernen, aus dem sie kommen. Im Südsudan herrscht seit Jahren Bürgerkrieg. Im Sudan konnte ich mehrere Familien unserer Flüchtlinge treffen. Unter ihnen die Mutter eines Jungen, der kurz nach seiner Ankunft bei uns gestorben ist. Diese Mutter war untröstlich. Sie hatte ihr Haus verkauft, damit ihr Sohn nach Europa gelangen konnte. 

Ist diese Offenheit ein Kennzeichen von Taizé?
Ja, und diese Offenheit wird immer wichtiger. Der Graben zwischen Europa und Afrika wird eher tiefer. Wir Europäer sollten den Menschen in Afrika aufmerksamer zuhören. Unsere Antwort beschränkt sich oft auf materielle Hilfe. Nur wenige lassen sich auf eine persönliche Begegnung ein. Solange keine Freundschaft entsteht, haben wir Christen unseren Auftrag nicht erfüllt. Das Ganze hat auch eine politische Dimension.

Ist das die Botschaft der Communauté?
Im Mittelpunkt unseres Lebens in Taizé steht die Versöhnung: die Versöhnung zwischen den Christen, genauso wie die Versöhnung zwischen allen Menschen. Diese Versöhnung wollen wir leben. Der Apostel Paulus hatte die unerhörte Vision, dass Christus gekommen ist, um die ganze Schöpfung, alle Menschen – aus den verschiedensten Kulturen und Sprachen – zusammenzuführen. Diesen Weg wollen wir auch in Taizé gehen.

Stichwort Ökumene: Nach dem ökumenischen Frühling in den 70er-Jahren herrscht heute eher Novemberstimmung.
Wir dürfen die Hoffnung auf die sichtbare Einheit nicht aufgeben und uns nicht damit begnügen, tolerant nebeneinanderher zu leben. Wir müssen die sichtbare Einheit mit konkreten Schritten verwirklichen. Für die jungen Menschen spielen kirchenpolitische und dogmatische Fragen kaum eine Rolle. Ihre Fragen lauten vielmehr: «Wie kann ich in der heutigen Welt aus dem Glauben leben? Was heisst es, Gott zu vertrauen?» Wir dürfen der kommenden Generation die Spaltung der Kirchen nicht aufbürden.

Viele in Europa tun sich gerade gegenüber dem Islam schwer.
Auch im Nahen Osten gibt es dazu unterschiedliche Haltungen. Im Libanon wundert man sich, wie schwierig der interreligiöse Dialog etwa in Ägypten ist. Viele koptische Christen stehen den Muslimen misstrauisch gegenüber. Die Haltung hängt stark von der Geschichte des jeweiligen Landes ab. Nach den Anschlägen von Paris haben wir überlegt, was wir tun können, und wir besuchten den Imam und die muslimische Gemeinde in Châlon. Der Imam war froh über unseren Besuch. Er hat uns später viel geholfen, das Vertrauen der teils noch sehr jungen muslimischen Flüchtlinge hier in Taizé zu gewinnen. 

Kommen bald Muslime nach Taizé?
Das geschieht bereits! Im Frühling haben wir auf Anregung  von Sufis erstmals zu einem islamisch-christlichen Freundschaftstreffen eingeladen. 300 Jugendliche kamen, darunter 100 Muslime. Doch wir machen uns keine Illusionen: Der Dialog ist nicht einfach. Aber wir sind überzeugt, dass wir uns für die Begegnung mit den Muslimen öffnen müssen.

Sie sehen das Elend im Sudan und hören die Sorgen der Jugendlichen. Frère Alois, was tröstet Sie?
Vor allem trösten mich Situationen, an die ich mich gerne erinnere und die mich geprägt haben. Ein Beispiel: Als ich als Jugendlicher nach Taizé kam, hat Frère Roger Paulus zitiert: «Wer kann uns verurteilen? Christus Jesus ist gestorben, mehr noch: Er ist auferweckt worden.» Damals wurde mir plötzlich klar, dass Christus niemanden verurteilt. Vielleicht war es die Art, wie Frère Roger es sagte, die mich so tief berührt hat. Es ist seltsam, ich komme immer wieder darauf zurück, wenn mir Menschen von ihren Schwierigkeiten erzählen. Wichtig ist, dass wir unvoreingenommen zuhören und uns gegenseitig ermutigen, auf dem Weg des Evangeliums weiterzugehen.

Ist Taizé eine «Geistliche Schule»?
Das Wort «geistlich» verweist auf den Heiligen Geist, den wir oft vergessen. Für Frère Roger war es wichtig, dass wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen. Das Schwierigste im Leben ist es, unsere Grenzen anzunehmen. In diesen Momenten sind wir auf die Barmherzigkeit Gottes und die der anderen angewiesen. Vertrauen wir dem Heiligen Geist! 

Interview: Michael Bangert, Gespräch aufgezeichnet an einem Podium in der ökumenischen Kirche Flüh SO: Michael Schäppi/Tilmann Zuber

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