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Der Wellenschlag meines Herzens

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31.01.2019
«Früher lebte ich immer in einem Vorbereitungsstadium, ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich tat, noch nicht das „Richtige“ sei, sondern nur Vorbereitung zu etwas anderem, etwas ‚Grösserem‘, etwas Richtigem.»

Diese Worte notiert Etty Hillesum, eine junge Holländerin, in ihrem Tagebuch. Sie war damals 27 Jahre alt, Holland von den Nazis besetzt und sie selbst als Jüdin in grosser Gefahr. Ihr Leben hat eine entscheidende Wende genommen, als sie den 1941 aus Deutschland geflohenen Julius Spier getroffen hat. Er ermutigt sie, mit dem Tagebuchschreiben zu beginnen. Das kommt Etty entgegen. Sie will Schriftstellerin werden.

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Sie beginnt mit Julius Spier eine Beziehung und arbeitet mit ihm gleichzeitig therapeutisch. Er ist Chiropsychologe[1] und öffnet ihr Horizonte. Sie lebt jetzt anders: »Aber das ist nun völlig von mir abgefallen. Ich lebe jetzt, heute, in dieser Minute, ich lebe voll und ganz, und das Leben ist es wert, gelebt zu werden.« In ihren Tagebüchern gibt sie tief berührende Einblicke in ihren inneren Weg.

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Sie nimmt sich vor: «Ich glaube, dass ich das tun sollte: morgens vor Beginn der Arbeit ein halbe Stunde lang 'mich nach innen wenden', horchen nach dem, was in mir ist. 'sich versenken'.» Man kann es auch als meditieren bezeichnen. Aber vor dem Wort graut mir noch ein bisschen. Aber warum eigentlich? Eine halbe Stunde mit mir selbst allein. Es genügt nicht, morgens im Badezimmer nur Arme, Beine und alle anderen Muskeln zu bewegen. Der Mensch besteht aus Körper und Geist. Und eine halbe Stunde Gymnastik und eine halbe Stunde „Meditation“ können zusammen ein solides Fundament für die Konzentriertheit eines ganzen Tages bilden.«

Mit dieser Übung ist sie unterwegs und bemerkt, dass sie «ein kleines Schlachtfeld» ist, auf dem die Probleme und Kämpfe dieser Zeit ausgetragen werden. Und sie macht eine grossartige Entdeckung: «In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden. Ich stelle mir vor, dass es Menschen gibt, die beim Beten die Augen zum Himmel erheben. Sie suchen Gott ausserhalb ihrer selbst. Es gibt auch andere, die den Kopf senken und in den Händen verbergen; ich glaube, diese Menschen suchen Gott in sich selbst. […] Die einzige Gewissheit, wie du leben sollst und was du tun musst, kann nur aus dem Brunnen aufsteigen, der aus deiner eigenen Tiefe quillt.»

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Diese Entdeckung löst einen Veränderungsprozess aus: «Ich habe manchmal das Gefühl, als sässe ich in einem höllischen Fegefeuer und würde zu etwas geschmiedet. Zu was? Das ist wiederum etwas Passives, ich muss es mit mir geschehen lassen.»

Sie geht ihren Weg mit «kristallklarer Ehrlichkeit» und wird immer empfindsamer. Ihr Grundgefühl ist das der Liebe und des Friedens. Sie ruht in sich.

«Ich bin bereit, in jeder Situation und bis in den Tod Zeugnis davon abzulegen, dass das Leben schön und sinnvoll ist und dass es nicht Gottes Schuld ist, dass alles so gekommen ist, sondern die unsere… In manchen Augenblicken kommt es mir vor, als wäre das Leben für mich durchsichtig geworden, und auch die Herzen der Menschen, ich schaue und schaue, und begreife immer mehr, und ich werde innerlich immer friedvoller; in mir ist ein Vertrauen auf Gott, das mich zunächst durch sein rasches Wachstum fast ängstigte, das mir nun aber immer mehr zu eigen wird.»

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 Es gibt auch eine andere Seite. In ihrem berühmt gewordenen Sonntagmorgengebet schreibt sie 1942:

«Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leides an mir vorüberzogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben … Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Innern bis zum Letzten verteidigen müssen.»

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Auch nachdem sie im Lager Westerbork interniert ist, schreibt sie weiter. Furchtlos.Sie fühlt sich «wie ein kleiner Vogel in einer grossen schützenden Hand geborgen.»

«Das Lebensgefühl ist so stark und ruhig, und meine Dankbarkeit ist so gross, dass ich gar nicht versuchen will, es mit einem einzigen Wort auszudrücken. In mir ist ein einziges und vollkommenes Glück, mein Gott. Es lässt sich am besten ausdrücken mit den Worten: „in sich ruhen.“ Und hiermit ist mein Lebensgefühl am vollkommensten ausgedrückt: Ich ruhe in mir selbst. Und jenes Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich „Gott“.»

«Und so fühle ich mich nun, immer und unablässig: als ob ich in deinen Armen läge, mein Gott, so beschützt und geborgen und so von einer Ewigkeit durchtränkt.»

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In einem ihrer letzten Briefe an eine Freundin beschreibt sie ihr inneres Erleben im Lager.

«Heute Nachmittag ruhte ich mich auf meiner Pritsche aus und musste plötzlich Folgendes in mein Tagebuch schreiben, ich schicke es dir:

Du hast mich so reich gemacht, mein Gott, lass mich auch mit vollen Händen davon austeilen. Mein Leben ist zu einem ununterbrochenen Zwiegespräch mit dir, mein Gott, geworden, zu einem einzigen großen Zwiegespräch. Wenn ich in einer Ecke des Lagers stehe, die Füße auf deiner Erde, das Gesicht zu deinem Himmel erhoben, dann laufen mir manchmal die Tränen über das Gesicht, entsprungen aus einer inneren Bewegtheit und Dankbarkeit, die nach einem Ausweg sucht. Auch abends, wenn ich im Bett liege und in dir ruhe, mein Gott, rinnen mir manchmal die Tränen der Dankbarkeit übers Gesicht, und das ist mein Gebet. […] Ich kämpfe nicht gegen dich, mein Gott, mein Leben ist ein großes Zwiegespräch mit dir. Vielleicht werde ich nie eine große Schriftstellerin, wie ich es eigentlich vorhabe, aber ich fühle mich tief in dir geborgen, mein Gott. Ich möchte zwar manchmal kleine Weisheiten und vibrierende kleine Geschichten in Worte prägen, aber ich komme immer wieder genau auf ein und dasselbe Wort zurück: Gott, darin ist alles enthalten, und dann brauche ich all das andere nicht mehr zu sagen. Und meine ganze schöpferische Kraft setzt sich um in die inneren Zwiegespräche mit dir, der Wellenschlag meines Herzens ist hier breiter und zugleich bewegter und ruhiger geworden, und mir ist, als würde mein innerer Reichtum immer größer.»

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Am 7. September 1943 wird Etty mit ihrer gesamten Familie nach Auschwitz deportiert. Dort stirbt sie am 30. November 1943. Sie ist 29 Jahre alt. Lars Syring

Ansehen: Die Liebe als einzige Lösung

 

[1]   Verbindung aus Psychoanalyse und Handlesen. Etty beschreibt Spiers Aufgabe: «Er öffnet ihre Wunden und lässt den Eiter abfliessen, er bohrt den Brunnen an, in dem sich Gott bei vielen Menschen verborgen hält, ohne dass sie es selbst wissen, er arbeitet so lange mit ihnen, bis die Gewässer in ihren vertrockneten Seelen wieder zu fliessen beginnen.»