News aus dem Thurgau

«Gewaltausbruch ist Ausdruck von radikaler Frustration»

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02.07.2019
Protest / Millionen von Menschen in Hongkong wehren sich gegen den wachsenden Einfluss Chinas. Christen spielen in der Bewegung eine herausragende Rolle, wie Pfarrer Tobias Brandner von Mission 21 erklärt.

Seit Wochen demonstrieren die Hongkonger friedlich und in grosser Zahl. Nun scheint aber Gewalt und Chaos den Protest  zu beherrschen.

Tobias Brandner: Das für Hongkong eher ungewöhnliche Ausmass an Gewalt ist auch Ausdruck einer radikalen Frustration vieler Menschen. Das darf aber nicht überschatten, dass gestern eine halbe Million Menschen friedlich demonstriert haben. Sie protestieren gegen eine Regierung, die kaum mit der Zivilgesellschaft in Verbindung tritt. Die Regierungschefin Carrie Lam redet wohl davon, dass sie zuhören will, aber ausser, dass sie das Gesetz für einen Moment auf Eis gelegt hat, machte die Regierungschefin von Hongkong kein echtes Zugeständnis. 

Warum wird eigentlich am 1. Juli demonstriert? 

Am 1. Juli 1997 wurde die britische Kronkolonie an die Volksrepublik China übergeben  und die vereinbarung zwischen London und Bejing lautete: „Ein Land – zwei Systeme“. Zwei Systeme, das bedeutet für Hongkong: Hier ist die Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit verbrieft, Grundrechte also, die den Menschen in Festland-China vorenthalten werden.

Nach den massiven Protesten von 2014, in der die Occupy-Bewegung für drei Monate die Innenstadt besetzte, war es ruhig geworden. Die Führer sitzen im Gefängnis und die Regierung gab sich kompromisslos. Das neue Auflackern der Demokratiebewegung in einer solchen Intensität überrascht? 

Ganz verstummt ist der Protest nie. Demonstrationen, wie eben zum 1. Juli, gab es immer.  Aber jetzt haben wir wieder eine veränderte Situation, in der die nach 2014 zersplitterte Demokratiebewegung zusammenrückte.

Der Rücktritt der Regierungschefin Carrie Lam wird gefordert. Ist das realistisch?

Kaum: Die chinesische Zentralregierung schaut genau hin, was in Hongkong geschieht. Der Rücktritt einer Regierungschefin aufgrund von Massenprotesten fürchten sie schon wegen des etwaigen Nachahmer-Effekts. Doch sie wird wohl keine zweite Amtszeit antreten können.

Christen sind enorm aktiv innerhalb der Demokratie-Bewegung. Was sind die Gründe dafür? 

Man kann beinahe sagen, dass das «Sing Hallelujah to the Lord» zur inoffiziellen Hymne der Bewegung geworden ist. Die starke Beteiligung von Christen hat vor allem zwei Gründe: Einerseits sind Christen kritischer gegenüber totalitären Tendenzen. Sie sind kritischer gegenüber den autoritären Entwicklungen in China und der Machtakkumulation des Staatschefs Xi Jin Ping. Zum anderen sind Christen in den letzten Jahren sehr viel wacher und distanzierter geworden in politischen Fragen gegenüber China. Denn sie haben gesehen, wie sich der Machtanspruch der KP gegen die chinesischen Christinnen und Christen gewendet hat. Stichwort sind die Überwachungskameras in Kirchen, die Zerstörung von Hauskirchen und die Demontage von Kreuzen auf Gotteshäusern.

In China selbst haben die christlichen Kirchen in den letzten Jahrzehnten einen grossen Zulauf. Aber sie sind fromm und loyal zum Staat.

Die staatlich anerkannten Protestanten in China leisten schlicht den Befehlen des Staates Folge. Wenn sie akzeptieren, dass in der Kirchen KP-Parolen oder Überwachungskameras aufgehängt werden, heisst das nicht, dass sie dies gut heissen. Christen haben einen modus vivendi gefunden in dem System zu überleben und quasi sich ein Stück weit in die innere Migration zurückzuziehen. Und dennoch habe ich sehr kritische Voten von Vertretern der Staatskirche gehört.

Aber die Untergrundkirchen, die Hauskirchen, sind aufmüpfiger? 

 Zwischen den staatlich anerkannten Kirchen und den Hauskirchen besteht theologisch und spirituell kein wesentlicher Unterschied. Der Unterschied besteht einzig in einer unterschiedlichen Haltung zu staatlichen Autoritäten. Die meisten Hauskirchen sind nicht explizit rebellisch. Sie sind es implizit, weil sie sich weigern, sich bei staatlichen Stellen zu registrieren

Aber sie sind evangelikaler?

Theologisch sind Staats- wie Hauskirchen konservativ. Vielleicht sollten wir in Westeuropa zur Kenntnis nehmen: Weltweit ist der Protestantismus mehrheitlich evangelikal. 

Es heisst: In China gehen sonntags mehr Christen in die Kirche als in Westeuropa zusammen. Wie viele sind es denn?

Ich schätze etwa 80 Millionen Menschen in China bezeichnen sich als Christen. Das ist konservativ gerechnet. Es gibt fundierte Schätzungen, die von 100 Millionen Christinnen und Christen ausgehen. Das scheint mir plausibel. Das renommierte PEW-Center in den USA hat mit guten soziologischen Methoden die Religionszugehörigkeit der Menschen weltweit erhoben. Vor einigen Jahren gingen ihre Schätzungen für China von 70 Millionen Christen aus. Wenn man diese Zahl mit dem jährlichen Wachstum extrapoliert, kommt man auf ungefähr 100 Millionen

Jetzt aber werden durch die autoritäre Religionspolitik von Chinas oberstem KP-Führer Xi Jin Ping die christlichen Gemeinschaften wieder schrumpfen? 

Ich denke nicht. Die chinesische Christenheit beweist eine ungeheure Flexibilität und Widerstandsfähigkeit. Selbst in der repressiven Epoche der Kulturrevolution ist das Christentum gewachsen und legte die Basis für den Erfolg in der sich daran anschliessenden Liberalisierungsphase von Deng Xiaoping. 

Interview: Delf Bucher, reformiert.info, 2. Juli, 2019

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