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«Ich frage mich, wäre ich fähig gewesen, Widerstand zu leisten?»

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20.11.2019
Lukas Hartmann ist ein umtriebiger Autor: Für die Basler Predigerkirche schrieb er den Totentanz, und in seinem jüngsten Buch «Der Sänger» greift er ein Flüchtlingsschicksal auf. Hartmann über den Tod, Flüchtlinge und das Schreiben als Lebenssubstanz.

Lukas Hartmann, Sterben und Tod spielen in Ihren Büchern eine grosse Rolle. Für den Totentanz, der in Basel aufgeführt wurde, schrieben Sie den Text. Was bedeutet für Sie der Tod?
Das ist eine ständige Frage, die sich nicht beantworten lässt. Der Tod ist eine Grenze und eine Grenzüberschreitung, ein Übergang. Was danach kommt, weiss ich nicht. Alle, die nicht in einer Glaubensgewissheit leben, sind mit dieser Frage überfordert.

Passiert dies nicht den meisten von uns?
Ja. Der Tod überfordert auch unsere Zivilisation, man drückt sich vor ihm und hält ihn sich lieber auf Distanz. Jene, die unbeirrbar glauben, haben ein Geschenk, ohne es zu wissen. Sie können sich an etwas festhalten, auch wenn sie im letzten Moment zu zweifeln beginnen.

Gibt es für Sie ein Leben nach dem Tod?
Ich hoffe, dass ich in etwas eingehen kann, das mich umfasst. Nicht in ein Paradies oder in eine Hölle. Schön wäre es, wenn ich diese Gelassenheit behalten könnte.

Im Mittelalter gab es die Vorstellung vom Tod, der als galanter Tänzer die Verstorbenen ins Jenseits geleitet. Ist dieses Bild tröstlich?
Die Vorstellung gefällt mir. Sie hat mich schon als Kind fasziniert. Vielleicht mildert es doch den Schrecken vor dem Unbekannten, diese Aufforderung zum Tanz, die einen erlöst, die Harmonie, ein Geführtwerden ohne Zwang.

Hilft Schreiben, um den Skandal, den der Tod ein Stück weit darstellt, zu verarbeiten?
Der Tod hat bei uns ein Doppelgesicht: Er kann tatsächlich eine Erlösung sein, aber auch ein Zwang und eine totale Überforderung. Das zeigt sich erst in der letzten Phase des Lebens. Ich habe zweimal den Tod eines sehr nahen Menschen erlebt. Meine Mutter ist mit einer grossen Gelassenheit aus dem Leben geschieden, während ein Freund, der unheilbar Krebs hatte, unglaublich litt und kämpfte. Er wollte nicht gehen. Im allerletzten Moment hat er doch zur inneren Ruhe gefunden. Das hat mich getröstet.

Macht Schreiben ein Stück unsterblich?
Das ist zu hoch gegriffen. Schreiben bedeutet, dass etwas von meiner geistigen Substanz weiterlebt. Das ist für mich ein Trost – ab und zu wenigstens.

So wie es tröstlich ist, Kinder zu haben.
Ja, denn man weiss: Etwas von mir lebt weiter.

Zu einem anderen Thema: In Ihrem neusten Buch «Der Sänger» greifen Sie die eindrückliche Lebensgeschichte des Tenors Joseph Schmidt auf. Was hat Sie an diesem Schicksal fasziniert?
Schmidts Geschichte ist eine der vielen, die sich damals, in der Kriegszeit, abgespielt haben. Als ich auf alten Schallplatten seine strahlende Stimme hörte, ging sie mir sehr nahe. Joseph Schmidt wuchs an der österreich-rumänischen Grenze in grosser Armut als Sohn eines frommen Pachtbauern auf. Dank seiner Stimme machte er bald Karriere und brachte es zu Ruhm und Wohlstand. Als die Nazis die Macht ergriffen, glaubte er wie viele, dieser Spuk gehe rasch vorbei. Dann verschlimmerte sich die Lage für die Juden. Joseph Schmidt flüchtete in die Schweiz, wo er nach kurzer Zeit in einem Internierungslager starb. Schmidt hatte sich seinem Schicksal gefügt. Er wollte nicht auffallen. Er rebellierte nicht gegen die Nazis, er hatte zu viel Angst, um in den Untergrund abzutauchen. Ich frage mich oft, wäre ich fähig gewesen, als Schriftsteller gegen eine entfesselte Staatsmacht Widerstand zu leisten?

Und?
Ich weiss es nicht, ich hoffe es. Das Schicksal stellt uns manchmal vor schwierige Fragen.

Schmidt hat sich seinem Schicksal gefügt, sagen Sie.
Ja, Schmidt hat es angenommen, selbst wenn es noch so ungerecht war. Im Buch sagt der Schriftsteller Manès Sperber zu ihm: «Wir sind ja nicht nur Opfer, sondern auch Täter, indem wir zu wenig oder gar keinen Widerstand gegen das Unrecht wagen.»

Ja, warum macht man zu wenig?
Im Zweiten Weltkrieg waren die behördlichen Erlasse in der Schweiz sehr streng. Ab August 1942 konnte man keine jüdischen Flüchtlinge mehr unterstützen. Viele hatten Angst, gegen die Gesetze zu verstossen, und sie fürchteten den Einmarsch der Deutschen. Dazu kam, dass dieJuden in der damaligen Schweiz bei vielen unerwünscht waren. Doch es gab auch das Gegenteil: Vielerorts wurde die Verfügung der Behörden unterlaufen, gerade an der Genfer Grenze. Es gab Gruppierungen, die halfen und sich exponierten. Karl Barth hat als berühmter Theologe immer wieder seine Stimme zugunsten der jüdischen Flüchtlinge erhoben. Dafür zolle ich ihm hohen Respekt.

Haben Sie Erinnerungen an diese Zeit?
Ja, ich erinnere mich an meine Mutter, deren Mann in den 40er Jahren an der Grenze stand. Sie hatte Angst vor dem, was passiert, und davor, dass die Deutschen in Bern einmarschieren würden. Nacht für Nacht hat sie geweint. Viele Leute teilten diese Angst und setzten auf die Armee. Ich zweifle, ob die Armee wirklich Widerstand hätte leisten können. Vermutlich spielte es eine grössere Rolle, dass die Gotthardlinie, der Durchgang von Deutschland nach Italien, offen blieb. Man kann bis heute darüber streiten, warum die Schweiz verschont geblieben ist. Ich achte Karl Barth, der sagte: «Die Flüchtlinge tun uns die Ehre an, in unserem Land einen letzten Ort des Rechts und des Erbarmens zu sehen.» Ein unglaublicher Satz, der christlich fundiert ist, aber mit einer grossen Offenheit gegenüber den Juden.

Gilt dieser Satz auch für die heutigen Flüchtlinge?
Unbedingt. Der Blick auf unsere Zeit war ein Motiv, das ich mit den Flüchtlingsschicksalen im Zweiten Weltkrieg nochmals aufgegriffen habe.

Sie haben Karl Barth zitiert. Es gab noch andere Theologen und Pfarrer, die sich für die Flüchtlinge damals stark machten. Vermissen Sie solche Voten heute in der Kirche?
Ja, ich möchte gerne solche Stimmen lauter hören. Die reformierte Kirche ist eine Volkskirche mit den verschiedensten Meinungen. Sie muss deshalb den Kompromiss suchen. Das ist eine sehr schweizerische Haltung; manchmal schämt man sich aber über die nicht allzu mutigen Beschlüsse.

Sie wurden im Augst 75 Jahre alt. Haben Sie keine Angst, dass Ihre Kreativität nachlässt?
Nein, ich lege zwischen den Büchern Pausen ein. Ich schreibe, solange ich kann. Das ist eine Art Lebenssubstanz für mich.

Hat sich Ihr Blick im Alter geändert? Sind Sie weiser geworden?
Was ist weiser? Gelernt haben, sich zu fügen? Klarheit, verbunden mit grösserer Toleranz? Als junger Student der Geschichte fand ich die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg himmeltraurig. Heute, nach dem Studium der Akten für das Buch «Der Sänger», ist mir klar, in welchen Zwängen die Leute damals lebten.

Der Druck aus dem Deutschen Reich war enorm?
Ja. Damals war die Schweiz ein armes Land. Trotzdem haben viele gespendet und getan, was sie konnten. Heute gehört die Schweiz weltweit zu den reichsten Ländern. Trotzdem lehnen es viele ab, mehr für die Asylsuchenden zu tun. Man mag ja seine Gründe haben, aber wenn man die Asylsuchenden als Tagediebe und unechte Flüchtlinge diffamiert, dann rebelliert es in mir.

«Der Sänger» zeigt ja, welche unerhörten Begabungen es unter den Flüchtlingen gibt.
Eigentlich wissen wir dies alle. Aber der legendäre Satz «Das Boot ist voll» geistert noch in vielen Köpfen herum und die meisten wollen sich in ihrer Lebensweise nicht stören lassen. Sie glauben, sie könnten die Augen vor der Wirklichkeit verschliessen. Das Gleiche gilt für den Klimawandel.

Sie haben auch Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Welche Geschichten sollte man unbedingt seinen Kindern erzählen?
Geschichten, die auf eindringliche und humorvolle Art Kinder ermutigen, zu sich zu stehen und die Welt zu entdecken. Sie sollten unterstützt werden, den Weg zu gehen, den sie selber richtig finden, selbst wenn dieser manchmal schwierig ist. In den Büchern von Astrid Lindgren gibt es solche Figuren.

Wir stehen kurz vor Weihnachten. Wie wichtig ist die Weihnachtsgeschichte für Kinder?
Das Bild vom verletzlichen Neugeborenen im Stall, das die Leute aufsuchen, um das sie sich kümmern und dem sie Schutz gewähren, finde ich ein stimmiges Bild, das in allen Zeiten gilt.

Es führt zum Kern der christlichen Botschaft?
Das sehe ich so, ja.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 20. November 2019

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