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Winterwunderweihnacht – schön, aber erfunden

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24.12.2019
Verschneit, weiss, pulverschneeig, eiszapfenklirrend und von tausend Kerzen erhellt sollen sich die langen Nächte im Weihnachtsmonat idealerweise zeigen. Diese romantische Winterfantasie ist allerdings ziemlich unbiblisch.

Leise rieselt der Schnee. Hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter. Auch im Winter, wenn es schneit. Lasst mich ein, ihr Kinder, ist so kalt der Winter. So tönt es in vielen Weihnachtsliedern – und es zeigt: Weihnachten und Winter gehören untrennbar zusammen. Auch wenn im Zuge des Klimawandels an den Weihnachtstagen im Tiefland nur noch selten Schnee liegt. Und die Landschaft somit nicht überzuckert ist wie auf einem herrlich kitschigen Adventskalender.

Ist Weihnachten aber wirklich ein Winterfest? Berichtet die Bibel von winterlichen Szenen? Mitnichten. In seiner Weihnachtsgeschichte nennt der Evangelist Lukas keine Jahreszeit. Nur so viel: Josef und seine schwangere Frau Maria sind unterwegs, um sich wegen einer Volkszählung in Josefs Heimatort Bethlehem zu melden. Am Ziel angekommen, bringt Maria ihr Kind zur Welt. In einem Stall, weil keine andere Unterkunft frei ist. Kurz darauf kommen Hirten aus der Umgebung, um dem Kind, das sie als ihren Messias erkennen, zu huldigen. Sie sind, wie es im Bibeltext heisst, draussen auf dem Feld und hüten ihre Tiere, auch nachts.

Zwischen März und Oktober
In der Gegend um Bethlehem gibt und gab es zwischen November und Februar allerdings kein Gras, das den Schafen draussen auf dem Feld Nahrung böte. Winters liess man das Vieh im Stall; erst in der warmen Jahreszeit gehörte das Bild von weidenden Schafherden und im Freien übernachtenden Hirten wieder zum Alltag. Demzufolge müsste Jesus also zwischen März und Oktober zur Welt gekommen sein.

Manche Forscher glauben es sogar noch genauer zu wissen. Denn gemäss der zweiten biblischen Weihnachtsgeschichte, jener des Evangelisten Matthäus, reisten Weise aus dem Morgenland nach Bethlehem. Sie wollten das Königskind sehen, das soeben auf die Welt gekommen war. Ein besonderer Stern hatte ihnen diese Geburt angezeigt. Der australische Astronom Dave Reneke und sein Team haben vor wenigen Jahren mit einer modernen Software errechnet, wie die Sterne zu Jesu Zeit am Himmel standen. Dabei stellten sie fest, dass im Jahr 2 vor Christus die Planeten Venus und Jupiter sehr eng zusammenrückten, was aussah wie ein einzelner neuer Stern. Diese zeitlich beschränkte Annäherung lässt sich exakt auf den 17. Juni datieren.

Mit detektivischem Spürsinn
Eine andere Methode, den Geburtsmonat von Jesus zu rekonstruieren, besteht darin, Angaben aus der biblischen Offenbarung mit Details aus dem Lukasevangelium zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen. Eine Rolle spielt bei diesem Vorgehen unter anderem die Tatsache, dass Johannes der Täufer sechs Monate älter war als Jesus. Und auch, dass Johannes’ Vater, der Priester Zacharias, nach einem bestimmten Kalender Tempeldienst versah. Der Autor Wolfgang Schneider spielt diese anspruchsvolle kombinatorische Methode auf der Bibelcenter-Website durch und kommt zum Schluss: Jesus muss Ende August oder Anfang September geboren worden sein.

Dies legt nahe: Weihnachten ist eigentlich kein Winter-, sondern ein Sommerfest. Was wäre, wenn wir uns nach dieser Erkenntnis richten und Weihnachten nicht mehr im Winter, sondern im Sommer feiern würden?

Behaglichkeit ade
Das käme einem veritablen Kulturschock gleich. Weihnachten wäre einfach nicht mehr Weihnachten. Keine kaminfeuerknisternde Winterbehaglichkeit mehr. Keine Gebäcke mit den klassisch wärmenden Gewürzen wie Ingwer, Zimt und Kardamom. Keine warmen Weihnachtstees, keine Weihnachtsmärkte mit heissen Marroni und Apfelpunsch. Keine Weihnachtsdekorationen mit künstlichen Eiszapfen und raureifbestäubten Baumkugeln, keine pelzig-warm angezogenen Samichläuse. Und sicher auch keine festlichen Strassenbeleuchtungen, keine Adventskerzen, keine Lichterketten, keine Weihnachtsbäume – was sollte man in den hellen Sommernächten damit? Die Pfarrpersonen hätten es ebenfalls schwer: «Es ist uns ein Licht erschienen in dunkler Nacht...» So liesse sich keine Weihnachtspredigt mehr beginnen.

Grosses Christmas-Openair
Kurz und gut: Unsere Weihnachtskultur wäre eine völlig andere. Das traditionell introvertierte, familiäre, in warmer Stubenatmosphäre stattfindende Fest wäre künftig eine extrovertierte Chilbi in Festzelten, öffentlichen Sälen, auf Wiesen, an Seeufern und in Schwimmbädern, mit Saftigem vom Grill und Erfrischendem vom Bierfass. Mit Umzügen, Feuerwerk und Tanz, dazu allerlei regionalen Bräuchen vom Adventswettmähen bis hin zum Weihnachtshornussen. Die Lieder würden nicht von Schneefall handeln und vom Kindlein, das in der Krippe friert, sondern von zwitschernden Vögeln, die in den grünen Zweigen das Jesuskind lobpreisen, und von den Sommerblumen, die zum hohen Fest besonders prächtig blühen.

Unvorstellbar? Unvorstellbar.

Die Römer habens erfunden
Unseren lieb gewonnenen weihnächtlichen Winterzauber haben wir den Römern zu verdanken. Sie waren es, die begannen, den Geburtstag Jesu am 25. Dezember zu feiern. Warum gerade an diesem Datum? Weil niemand wusste, wann der Messias wirklich zur Welt gekommen war. So hatte man freie Hand, für seinen Geburtstag einen besonders geeigneten Termin festzulegen.

Einen solchen erblickten die römischen Christen im 25. Dezember. An jenem Tag feierte man in Rom traditionsgemäss den Geburtstag der «unbesiegbaren Sonne», denn ab dem 25. Dezember beginnen die Tage im Jahreslauf wieder länger zu werden. Als das Christentum im vierten Jahrhundert deutlich erstarkte, lag es nahe, dem alten und sehr beliebten Sonnenfest einen neuen Inhalt zu geben: Jesus Christus statt Sol Invictus.

Es bleibt im Ungewissen
Letztlich spielt es jedoch keine Rolle, ob Weihnachten nun im Winter oder Sommer gefeiert wird, denn Genaues über den historischen Geburtstermin von Jesus lässt sich nun einmal nicht herausfinden. Nebst dem Monat ist auch das Jahr strittig: Den meisten Theorien zufolge muss Christus irgendwann in den Jahren 7 bis 4 vor Christi Geburt zur Welt gekommen sein – aber das ist eine andere Geschichte.

Hans Herrmann, reformiert.info, 24. Dezember 2019

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