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Ohne Gemeindegesang und Kirchenchöre?

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15.05.2020
In den letzten zwei Monaten konnten Kirchenchöre höchstens noch online zusammen proben. Doch auch wenn das Versammlungsverbot gelockert wird, stellen sich viele Fragen. Beim Singen könnte das Infektionsrisiko höher als sonst sein. In der reformierten Zürcher Kirche wird deshalb an einem Schutzkonzept für Chorproben und Gesang im Gottesdienst gearbeitet.

Dass die ganze Familie Günther musikalisch ist, erweist sich zu Corona-Zeiten als praktisch. Johannes Günther, Kantor am Berner Münster und in der Zürcher Predigerkirche, konnte für Online-Gottesdienste zusammen mit den beiden Töchtern und seiner Frau an der Orgel auch ohne Sicherheitsabstand auftreten, da die ganze Familie zusammenlebt. Doch der Musiker hofft, dass mit den Lockerungen, die für den 8. Juni vorgesehen sind, auch in den Alltag der Chöre wieder etwas Normalität eintritt.

Proben in Kleingruppen
Mit dem Kinder- und Jugendchor des Berner Münsters jedenfalls wird Günther schon ab diesem Samstag wieder physisch proben. Der 93 Sängerinnen und Sänger der vier Chorgruppen sollen bis zum 8. Juni je zwei 45-minütige Proben haben. Und zwar zeitversetzt jeweils in Vierergruppen. Zu fünft ist Singen seit dem 11. Mai auch in den Musikschulen wieder möglich. Allerdings mit einem Abstand von mindestens drei Metern. «Wir verfügen zum Glück über genügend grosse Räume», sagt Günther und fügt an: «Nach der langen Pause wartet auf uns drei Chorleitende nun ein Proben-Marathon.»

Noch ist nicht definitiv entschieden, ob ab dem 8. Juni wieder Gottesdienste stattfinden können und wie die Probenarbeit dann weitergeführt werden kann. Dennoch hofft der Kantor, mit einem Teil des Jugendchors und der Berner Kantorei am 13. Juni die Samstagsvesper im grossen Berner Münster singen zu können.

Dramatische Ansteckungen
In Deutschland werden schon seit Anfang Mai vielerorts wieder Gottesdienste gefeiert. Die Evangelische Kirche in Deutschland empfiehlt aber, auf Gemeindegesang vorerst zu verzichten und keine Chöre, sondern nur einzelne Sänger und Sängerinnen auftreten zu lassen. Der Grund: In verschiedenen Ländern war es bei Chorproben und -auftritten zu dramatischen Ansteckungen mit dem Coronavirus gekommen. Nach Proben und einer Aufführung von Bachs Johannes-Passion am 8. März in Amsterdam wurden zum Beispiel 102 von 130 Mitgliedern eines Chors infiziert, vier Sänger starben. Und nach einer Probe der Berliner Domkantorei vom 9. März erkrankten 60 von 80 Teilnehmern am Virus, unter ihnen auch der Kantor und die Korrepetitorin, die mit einigen Metern Abstand zum Chor standen.

Auf der Suche nach Lösungen
Darum riet etwa das Freiburger Institut für Musikermedizin (FIM) Ende April grundsätzlich vom Chorsingen ab. «Das FIM hat seine erste Einschätzung inzwischen deutlich relativiert», sagt Jochen Kaiser, Leiter des Bereichs Musik und Gemeindeaufbau bei der reformierten Zürcher Landeskirche. Dennoch sei Vorsicht angebracht. Für die Zürcher Kirche erarbeitet der Musiker und Liturgiewissenschaftler ein Schutzkonzept für Kirchenchöre und den Umgang mit Gesang im Gottesdienst. Anhand von Fällen wie jenem in Berlin sucht er nach Lösungen, mit denen vermieden wird, was dort zutraf. So fand die Probe in einem für achtzig Personen eher kleinen Raum statt und dauerte sehr lange.

Wichtiges Lüften
Kaiser empfiehlt bei Chorproben und -auftritten einen Mindestabstand von drei bis fünf Metern zwischen den Sängern – das steht im Einklang mit Konzepten der Musikschulen und Verbänden der Berufsmusiker Doch nur mit einer genügend grossen Kirche sieht er das Problem noch nicht als gelöst. Einiges deutet darauf hin, dass sich Schwebeteilchen aus der Atemluft längerfristig in einem geschlossenen Raum halten und sich zu Aerosolwolken verdichten, durch die das Virus übertragen werden könnte.

Darum ist für Kaiser klar: «Lüften wird im Zusammenhang mit Singen sehr wichtig werden.» Doch nicht in allen Kirchen ist dies gut möglich. Darum sein Rat: Chorproben lieber in einem kleineren Raum, der gut durchlüftbar ist, abhalten und in Kauf nehmen, dass in kleineren Gruppen geübt werden muss.

Andere Formen finden
Grosse Chorauftritte in Kirchen noch in diesem Jahr hält der Liturgiewissenschaftler für unwahrscheinlich. Auf perfekte Auftritte hinzuarbeiten mache wenig Sinn. Zudem stehe nicht für alle Kirchenchöre die künstlerische Ambition im Vordergrund. «Vielen ist es mindestens so wichtig, im wöchentlichen gemeinsamen Singen den Alltag zu reflektieren, verarbeiten und verändern», sagt Kaiser und fügt an: «Chorproben sind Alltagsgottesdienste.»

Und der Gemeindegesang? Schliesslich ist dieser gerade in den reformierten Kirchen ein sehr wichtiger Teil des Gottesdienstes. «Vieles ist noch unklar», sagt Kaiser. Aber er rät vorerst lauten Gemeindegesang zu vermeiden, vielleicht eher zu summen und auch neue Möglichkeiten auszuprobieren, wie zum Beispiel Liedrufe eines Vorsingers, welche die Gemeinde kurz nachsingen kann. «Es gilt, kreativ zu sein». Dazu gehört für den Kirchenmusiker auch, im Sommer vermehrt Gottesdienste im Freien durchzuführen. Und Feiern in der Kirche sollten seiner Meinung nach fürs Erste deutlich kürzer sein als bisher.

Noch nicht in voller Pracht
Annedore Neufeld, Leiterin der Basler Münsterkantorei, hat wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen in den letzten Wochen verschiedene Arten von Online-Proben ausprobiert. Und sie ist am vergangenen Sonntag mit vier Sängerinnen und Sängern der Kantorei im Online-Gottesdienst aus dem Basler Münster aufgetreten. «Für sie, die sonst im Chor singen, war das schon etwas ganz Besonderes», sagt Neufeld. Sie würde die Arbeit mit der Kantorei liebend gerne wieder aufnehmen und hofft, dass dies im Juni vielleicht sogar in Zehnergruppen möglich sein wird. Doch auch sie ist überzeugt: «Ein Chor mit 60 Leuten wird wohl leider noch lange nicht in voller Pracht proben und auftreten können.»

Christa Amstutz, reformiert.info

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