News aus dem Thurgau

Wenn Kunst von Reformation und Theologie erzählt

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22.07.2020
Eine Stunde Kunst- und Reformationsgeschichte: Die neuen Sommerführungen der Zürcher Altstadtkirchen machen nun den Zuhausegebliebenen und Schweizer Stadttouristen dies möglich.

Die Glocken des Grossmünsterturms schlagen 18 Uhr. Die Kunsthistorikerin Carmen Arribas-Küffer kämpft mit lauter Stimme gegen das Geläute an. Aber sie dringt nicht durch und näher zu ihr hinrücken ist verboten. Vor dem Hauptportal sind Klebestreifen auf dem Boden angebracht mit der Aufschrift: «Bitte Abstand halten.» Nur Sprachfetzen dringen durch. So ungefähr: Mit der Sommerführung wollen die Zürcher Altstadtkirchen ein Angebot offerieren, um die berühmten Sakralbauten der Altstadt «neu zu entdecken oder wiederzuentdecken». Das Angebot soll schon von seiner Länge her – 60 Minuten – eine gewisse Niederschwelligkeit garantieren.

Kopflose Heilige
Wenige Minuten später unterm Südturm, von wo aus Karl der Grosse über die Stadt schaut, sind die Glocken verstummt. Nur noch das Akkordeonspiel eines Strassenmusikanten und die Fahrgeräusche der Trams sind zu hören. Nun dringt Carmen Arribas bei den 15 Zuhörenden durch, erzählt, wie Karl der Grosse hoch zu Ross einen Hirsch verfolgte. Das majestätische Tier kniete sich schliesslich just auf dem Moränenhügel oberhalb der Limmat nieder und das kaiserliche Pferd tat es ihm gleich. Der Grund der animalischen Demutsgeste: Auf der Kuppe des Hügels fand sich das Grab der verfolgten Christen Felix und Regula. Ihnen wurde  der Kopf abgeschlagen, weil sie sich weigerten den römischen Staatsgöttern zu huldigen. Kopflos seien sie von ihrer Richtstätte der Wasserkirche den Hügel hochgestapft.

Hier soll nun Karl der Grosse die Gräber der Märtyrer entdeckt und den Bau der Kirche für die Grablege der Stadtheiligen Zürichs befohlen haben. «Sie werden jetzt sagen: Schön und gut diese Legenden. Wo aber bleiben die Fakten?», sagt Arribas.  Leider kann aber die Kunsthistorikerin keine Gründungsurkunde vorweisen. Später räumt sie ein, dass es nicht einmal gesichert ist, ob der glorreiche Kaiser jemals Zürcher Boden betreten hat. Etwas was sie schmerzt. Denn für sie ist klar: «Das Grossmünster ist das Wahrzeichen Zürichs». Zurecht trage es auch die Universität in ihrem Siegel.

Unüberhörbar herrscht ein wenig Konkurrenzgeist zwischen den beiden Zürcher Münstern. Und das Fraumünster hat das, was dem Grossmünster fehlt: ein Pergament, in dem Ludwig der Deutsche als Stifter aufgeführt wird. Aber Arribas ist überzeugt, dass archäologische Funde beweisen, dass das Grossmünster die Stammkirche Zürichs war.

Eines ist vor allem unumstösslich: Am 1. Januar 1519 hielt Zwingli seine erste Predigt im Grossmünster. «Das war der Startschuss der zwinglianischen Reformation», sagt sie vor der Zwinglitüre des Bildhauers Otto Münch. Schnell lässt sie anhand der grossen Reliefs in den 24 Quadraten des Portals die Biografie des Reformators vorbeiziehen - von seiner Jugend bis zum Tod auf dem Schlachtfeld von Kappel 531.

Spirituelle Stille
Dann aber geht es in die Kirche: «Es ist etwas ganz Spezielles, diesen Kirchenraum nach 18 Uhr zu betreten», sagt sie. Denn abends um sechs hallt in diesem steinernen Bau normalerweise keine Stimme mehr. Stille lässt auch die Führerin einkehren. Sie will das Publikum die spirituelle Atmosphäre spüren lassen und  wendet sich dem zu, was sie als Kunsthistorikerin am meisten fasziniert: den Kirchenfenstern. Das Kirchenfenster des Apostel Paulus, das Johann Jakob Röttinger 1853 geschaffen hat, wirft sein Licht auf die Säule. Noch stärker leuchten die Farben von Sigmar Polkes Fensterreihe. Und als Arribas fragt, aus welchem Material diese transparente Farbenpracht geschaffen ist, kann eine Frau aus dem Publikum sofort antworten: «Das ist Achat.»

Die Kunsthistorikerin erläutert wie Polke seine Fenster auf das Weihnachtsfenster von Augusto Giacometti (1877-1947) hin konzipiert hat. Es seien Vordeutungen des Alten Testaments auf Jesus Christus hin, wie die Himmelfahrt von Elias oder auch David, der mit seinem Stammbaum mit Jesus verknüpft sei.

«Von wo aber hat Zwingli gepredigt?», will einer aus dem Publikum wissen. Arribas geht die Stufen zum Chor hoch, erläutert dass hier ein Letter, ein Eisengitter, die Chorherren von den Messebesuchern im Kirchenschiff abgetrennt hat. Dort habe Zwingli in der Mitte seine Kanzel aufgebaut - aus den Altären der aufgelassenen Klöster.

Die Ästhetik der Leere
Radikal war die Reformation, das lässt Arrbias , selbst als Kind katholisch sozialisiert, immer wieder durchblicken. Aber als Kunsthistorikerin zeigt sie auch ihr ästhetisches Gefallen daran, dass das von Heiligenaltären befreite Kirchenschiff den Kirchenfenstern einen so aussergewöhnlichen Auftritt ermöglicht. Im Kreuzgang endet die Führung. Geschichte wollte Carmen Arribas erlebbar machen. Der warme Applaus am Schluss zeigt, dass sie das erreicht hat.

Delf Bucher, reformiert.info

Sommerführungen im Fraumünster und im Grossmünster

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