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Wenn die Seele vor den Lehrsätzen des Glaubens verstummt

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03.12.2020
Religion tötet die Seele – jedenfalls Religion, die sich in einem verbindlichen Glaubenssystem ausdrückt. Zu diesem Schluss kommt der Autor Jürg von Ins in seinem neuen Buch «Verstummte Seelen».

Wir leben nicht grade in einer seelenvollen Welt. Sie ist dominiert von Vernunft, Wissenschaftlichkeit und Nützlichkeitsabwägungen. Mitschuld an dieser seelisch ausgetrockneten Wüstenei tragen laut dem Schweizer Religionswissenschaftler und Ethnologen Jürg von Ins in den westlichen Gesellschaften auch die christlichen Kirchen.

Das tönt auf den ersten Blick unlogisch, schliesslich sind es doch gerade die Kirchen, die sich um Seelisches und Spirituelles kümmern. Der Autor nimmt in seinem jüngst erschienenen Buch «Verstummte Seelen» aber jene Religionen aufs Korn, die er als «organisiert» bezeichnet – darunter auch das Christentum in seinen grosskirchlichen Ausprägungen. Diese Religionen würden, kritisiert von Ins, das Seelische durch ein ausformuliertes, verbindliches Glaubenssystem unterdrücken.

Wörtlich formuliert er es so: «Religionen sind in unterschiedlichem Grad organisiert. An die Stelle des religiösen Erlebnisses tritt schrittweise eine kohärente Ideologie. An die Stelle der staunenden Frage tritt ein zunehmend festgefügtes System autoritativer Antworten. Im Kern wird das Erlebnis durch die Forderung nach Gehorsam ersetzt.» Religion aber sei, betont von Ins, gerade das Gegenteil von Gehorsam.

Der Mensch ist religiös
Das religiöse Erlebnis sei, schreibt er weiter, nicht organisierbar. Es entziehe sich der sprachlichen Erfassung und Kodifizierung. Es sei kein Zufall, dass Buddha und Jesus nichts aufgeschrieben hätten und Laotse nur wenig, und das in poetischer Form. Religiöses Erleben in seiner einzigartigen und immer wieder neuen Form lasse sich nicht erzwingen, aber in Übungen, Gebeten, Ritualen, Techniken und überlieferten Glaubenswelten immerhin vorbereiten.

Auch wenn er die heutige Zeit als entzaubert und entseelt beschreibt: Jürg von Ins ist der festen Überzeugung, dass der Mensch ein religiöses Wesen ist und sich unweigerlich einer Religion zuwendet – «und wäre es nur das Bekenntnis zum technischen Fortschritt, zum wirtschaftlichen Wachstum oder zur Überlegenheit der eigenen Nation». Niemand komme ohne das «Pflaster auf der Wunde des Nichtwissens» aus.

Lust auf Waffen
Nebst der säkularen Ersatzreligion des wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteils trete in modernen Gesellschaften auch eine «volkstümliche rituelle Welt» in Erscheinung, die friedlich zu sein vorgebe, sich aber mit den Zeichen des Krieges schmücke, «indem sie das militärische Design bewundert, an seinem Schauer schnuppert, sich an ihm stärkt.» So lange, bis dies nicht mehr genüge. Dann heisse es: An die Waffen! Vielleicht sei dies auch der Grund, weshalb junge Frauen und Männer aus Europa – oft mit geringen Kenntnissen über Geschichte und Politik des Nahen Ostens – nach Syrien in den Krieg zögen: um den quasireligösen Schauder zu spüren.

Nach grundsätzlichen Betrachtungen widmet sich der Autor in der zweiten Hälfte des Buches ausgiebig den Praktiken von schwach oder kaum organisierten Religionen in Afrika, Lateinamerika und anderswo, in denen nicht das Lehrgefüge, sondern das Ritual und das daraus resultierende Erleben zentral ist. Um religiöse Besessenheit geht es hier, um Trance, Ekstase, heiligen Wahnsinn, aber auch um beseelte Gegenstände. Hier schlägt der Ethnologe durch; wer es nicht so mit dieser Disziplin hat, überblättert womöglich das eine und andere detailreich ausgeführte Beispiel.

Eine weisse Gestalt am Waldrand
Immerhin erfährt man aber auch Erstaunliches – zum Beispiel von einer «Besessenheitsepidemie» in der Schweiz im Jahr 2016. Dabei sahen 13-jährige Mädchen auf einer mehrtägigen Schulreise mehrmals und zu unterschiedlichen Zeiten ein geisterhaftes weisses Mädchen am Waldrand. Immer mehr Teilnehmerinnen sahen die Gestalt, manche Mädchen lagen am Morgen von Weinkrämpfen geschüttelt im Bett. Zwei mussten erbrechen, drei weitere hatten Atemnot. Solche spontane «epidemische Besessenheiten» seien häufig an das Pubertätsalter gebunden und ein unbewusster Protest gegen die repressive Haltung der organsierten Religion, erklärt von Ins.

Wenn der Autor den Dualismus «organisierte Religion» versus «Seelenreligion» zuweilen etwas überbetont, bietet sein Buch dennoch reichlich Stoff zum Nachdenken über eine religiöse Welt, die zumindest im Westen am Verkümmern ist, weil sie dem Geheimnis, dem Erleben, dem Staunen kaum Raum bietet. Am Schluss des Buches schlägt Jürg von Ins einen versöhnlichen Bogen zum Christentum, indem er den grossen Erfolg dieser Religion, die in der Antike von vielen abgelehnt wurde, auf eine prägnante Formel bringt: «Man denke an den Spott der Römer über den Wahnsinn der Christen, wie er in der berühmten Karikatur des gekreuzigten Esels aus dem 3. Jahrhundert zum Ausdruck kommt. Nicht lange danach zeigte sich die Botschaft hinter dem Schleier des Wahnsinns, und das römische Imperium wurde christlich.»

Hans Herrmann, reformiert.info

Jürg von Ins, Verstummte Seelen, Kritik der organisierten Religionen. Münster Verlag, 2020. 220 Seiten, 26 Franken

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