News aus dem Thurgau

Juristische Debatte über das kirchliche Kovi-Engagement

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19.01.2021
Wie politisch darf die Kirche sein? Diese Frage, die im Zusammenhang mit der Konzernverantwortungsinitiative immer wieder aufgeworfen wurde, will das Bundesgericht anscheinend nicht beantworten. Die Vernehmlassung der Bundeskanzlei indes bewertet das kirchliche Engagement als «grenzwertig».

Matthias Müller ist Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz. Das kirchliche Engagement für die Konzernverantwortung hat dem ehemaligen Ministranten und Katholiken missfallen. «Aber aus der Kirche ausgetreten bin ich nicht», sagt er. Auf eine Frage hätte er aber als Staatsbürger und Jurist gerne eine Antwort: «Wie stark darf sich die Kirche bei politischen Urnengängen engagieren?»

Diese Fragestellung hat ihn mit anderen Jungfreisinnigen bereits während der Kampagne für die Konzernverantwortungsinitiative bewegt. In vier Kantonen – Aargau, Bern, St. Gallen und Thurgau – haben Parteifreunde von ihm Stimmrechtsbeschwerde erhoben. Das Argument der Jungfreisinnigen für ihre Beschwerde: Als öffentlich-rechtlich anerkannte Körperschaften hätten die Kirchen politisch neutral zu sein. In allen vier Kantonen wurde auf die Beschwerden nicht eingetreten, weshalb diese nun beim Bundesgericht zur Beurteilung vorliegen. Nun hofften die Jungfreisinnigen auf ein Grundsatzurteil vom Bundesgericht. Nur in Lausanne, so hat es den Anschein, will man der Klärung dieser Grundsatzfrage ausweichen. Dahingehend deuten die Recherchen der CH-Medien, die am Wochenende über ein mögliches Abschreiben der Beschwerden durch das Bundesgericht berichteten. 

Hoffen auf das Bundesgericht
«Die Diskussion um das politische Engagement der Kirchen setzte bereits anfangs der 80er-Jahre ein und ist seither in der akademischen Diskussion immer noch ungeklärt», sagt Müller. Er hofft nun, dass das ausgewiesene öffentliche Interesse, welches sich auch in der breit angelegten Medienberichterstattung niederschlägt, vom Bundesgericht anerkannt werde und es sich zu einem Grundsatzurteil durchringe. 

Mittlerweile kursiert die vertrauliche Vernehmlassung der Bundeskanzlei für das Bundesgericht in Journalistenkreisen. Die Bundeskanzlei, der eine besondere Rolle beim Wahren der direktdemokratischen Rechte zukommt, bewertet das kirchliche Engagement in Sachen Konzernverantwortung als «grenzwertig». In der Vernehmlassung der Bundeskanzlei ist zu lesen: Die kirchlichen Interventionen ähneln «der Kampagnentätigkeit privater Akteure.» Vor allem bezweifeln die Autoren des Papiers, ob die « ethische Relevanz der Vorlage respektive der Bezug zu den Kirchen» eine derart intensive Beteiligung rechtfertige.

Ethische Relevanz
Entscheidender juristischer Punkt ist also: Inwieweit ist die Kirche selbst betroffen und inwieweit gibt es für die von ihr verkündete christliche Botschaft eine «ethische Relevanz»?  Schon im November hatte der Alt-Bundesgerichtspräsident Giusep Nay festgehalten: «Die Jungfreisinnigen verkennen die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Anerkennung und der Religionsfreiheit. Ein staatliches Verbot würde die Religionsfreiheit verletzen.»

Im Gespräch mit «reformiert.» präzisiert er nun: «Weil die Körperschaften öffentliche Aufgaben wahrnehmen, ist ihr Interventionsrecht eingeschränkt, aber nicht so weit wie bei staatlichen Institutionen.» Von jeglicher Einschränkung befreit können sich nach Nay Bischöfe, Pfarrer und Christen äussern, wenn sie «zwischen der Rechtskirche und der Geistkirche unterscheiden», da sie dann im vollen Umfange die Religionsfreiheit beanspruchen dürfen. Aus der Sicht des Juristen Nay kann die Kirche weiterhin ein Partner der Zivilgesellschaft bei Kampagnen mit klar ethischem Bezug sein. 

Harsche Kritik an Wahlwerbung
Anders sieht es bei Wahlempfehlungen aus, wie ein Urteil des Bundesgerichts zeigt. 1991 setzte sich der Chefredaktor des Zürcher Kirchenboten, Christoph Stückelberger, für den Regierungsratskandidaten Moritz Leuenberger (SP) in einem Kommentar ein und veröffentlichte gleichzeitig wenige Tage vor dem Wahlgang eine Interpretation des späteren Bundesrates über ein Jesus-Gleichnis. Nach dem Wahlerfolg Leuenbergers erhob Ulrich Schlüer, der spätere SVP-Nationalrat, eine Stimmrechtsbeschwerde. Die angefochtene Wahl wurde indes nicht wiederholt. Aber in ihrem Urteil übte das Bundesgericht harsche Kritik an der journalistischen Praxis des «Kirchenboten». Die NZZ schrieb zum Urteil: Dem «Kirchenboten» wurde vom obersten Gericht eine Lektion über seine Pflicht zu neutralem Verhalten erteilt.»

Delf Bucher, reformiert.info

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