News aus dem Thurgau

Reformation auf dem Schlachtfeld

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18.08.2021
Die szenische Lesung «Zwingli unter Zwang» betrachtet die Widersprüche im Wirken des Reformators aus der Perspektive Gottfried Kellers und lädt zum Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen ein. Im September geht das Stück auf Tournee.

Nach «Lektion Luther» beschäftigt sich das Ensemble TmT (Theater mit Text) unter der Leitung von Niggi Ullrich mit Huldrych Zwingli. Die szenische Lesung «Zwingli unter Zwang» basiert auf Gottfried Kellers Novelle «Ursula» von 1877. Im Zentrum von Kellers Erzählung steht die Liebesgeschichte zwischen Hansli und Ursula. Hansli kehrt 1523 als ehemaliger Reisläufer in die Heimat zurück und stellt fest, dass Ursula und ihre Familie sich den Täufern angeschlossen haben, während er mit Zwingli sympathisiert, den er in Marignano predigen hörte.

Fortschrittsglaube und Glaubenskonflikte
«Zwingli unter Zwang» ergänzt diese Geschichte mit Originaltexten des Schweizer Reformators. «Der einordnende historische Teil zeigt Zwingli als Figur der alten Eidgenossenschaft im 16. Jahrhundert», erklärt Niggi Ullrich. Gottfried Keller unterstützte 300 Jahre später die staatliche Neuordnung der Schweiz, die mit der Verfassung von 1848 den Grundstein für den schweizerischen Bundesstaat legte. In «Ursula» greife Keller Themen auf wie gesellschaftlicher Konsens und Toleranz, Fortschrittsglaube und Reformunwilligkeit sowie Glaubenskonflikte, sagt der Regisseur und sieht Parallelen zu heute: «Unsere Gesellschaft ist nicht weniger spirituell oder anfällig für Glaubenskonflikte, nur weil die Landeskirchen an Bedeutung verlieren.»

Kellers Bettagsmandate
Besonders interessant findet Ullrich die Bettagsmandate, die Gottfried Keller als Zürcher Staatsschreiber verfasste. Zwei davon finden Eingang in «Zwingli unter Zwang». Unter anderem rief Keller 1862 als Atheist auch jene, die der Kirche und dem Gottesdienst fernblieben, dazu auf, an diesem Tag «in stiller Sammlung dem Vaterlande seine Achtung» zu beweisen. Die Zürcher Regierung glaubte, dass dies den Pfarrern missfallen könnte, und bestellte bei einem anderen Schreiber ein neues Mandat.

Zwinglis Dilemma
Zwinglis «Zwang» sei ein Dilemma, so Niggi Ullrich: «Zwingli opfert seine eigenen Prinzipien. Nachdem er aus der Schlacht bei Marignano zurückkehrt, will er nie mehr Krieg und das Söldnerwesen abschaffen. Er will den Menschen Verantwortung geben, glaubt aber unter dem Eindruck der verschwörerisch sektiererischen Täufer, den Andersgläubigen nur mit Gewalt begegnen zu können – in einem solchen Ausmass, dass er sogar die Reformation in der Schweiz gefährdet und die Eidgenossenschaft bis weit ins 18. Jahrhundert schwächt.» In den Andersgläubigen – Katholiken und Täufern – habe Zwingli den schlimmeren Feind gesehen als in den Ungläubigen. «Im Moment, wo er als Staatsmann und Reformator siegen könnte, versagt er. Anstatt einen Beitrag zu einer toleranten, konsensualen Gesellschaft zu leisten, will er alles oder nichts, zettelt einen Krieg an und verliert.» Die Zürcher Truppen werden im Zweiten Kappelerkrieg vernichtend geschlagen und hätten damit die Legitimation verloren, Vorreiter der Reformation zu sein. Zwingli erleidet auf dem Schlachtfeld einen gewaltsamen Tod. Diese Zwiespältigkeit arbeitet «Zwingli unter Zwang» heraus.

Versöhnliche Liebesgeschichte
Die Liebesgeschichte zwischen Hansli und Ursula bildet den roten Faden. «Die beiden lieben sich zwar, verstehen einander jedoch nicht mehr. Sie verkörpern den Konflikt zwischen Treue und Gehorsam, sie als Täuferin, er als scheinbar von Zwingli beseeltem modernen Menschen, der Frieden statt Krieg möchte», erklärt Niggi Ullrich. Doch im Gegensatz zu Zwinglis Schicksal endet die Liebesgeschichte versöhnlich.

«Wir kritisieren Zwingli nicht, sondern beleuchten seine Rolle», betont der Regisseur. «Es gibt nicht die historisch wahre Geschichte von Zwingli, sondern verschiedene Geschichten. Diese interessieren die Menschen.»

Karin Müller, kirchenbote-online

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