News aus dem Thurgau

Coronazeit in Märchen verpackt

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23.08.2021
Der im Ruhestand lebende ehemalige Arboner Sekundarlehrer Hans-Jörg Willi erzählt in seinem Buch «Dornenkrone» 60 Kurzgeschichten zur Coronazeit. Als Vorlagen dienten ihm Märchen, Sagen und «galiläische Reden».

Was haben uns Märchen, Sagen oder biblische Texte in der Coronasituation zu sagen? Hans-Jörg Willi schrieb in der Coronazeit ein 120-seitiges Buch mit dem Titel «Dornenkrone». Es enthält 60 kurze Erzählungen mit Bezügen zur Gegenwart und mit Wurzeln in den Märchen der Gebrüder Grimm, in der Geschichte der Stadt Arbon, in galiläischen Reden und anderen Quellen. Der Band liest sich leicht – wem sind Märchen und Sagen nicht aus der Kindheit vertraut? – und er regt zu Gedanken an: zum Umgang mit der Coronasituation, zum Gegensatz von Arm und Reich in der Welt und zur Klimakrise. Trotz der klaren Bezüge zur Gegenwart sind die Erzählungen nie belehrend. Sie geben aktuelle Fragen zu bedenken, überlassen die Antworten aber den Leserinnen und Lesern.

«Weltmeister ist unzufrieden»
Im Märchen «Rapunzel» der Gebrüder Grimm wird das schöne Mädchen mit den langen Haaren von der bösen Pflegemutter in einen Turm gesperrt, bis die junge Frau schliesslich von einem Prinzen befreit wird, der – von ihrem Gesang verzaubert – an ihrem Haar hinauf in den Turm klettert. In seiner Kurzgeschichte unter dem Titel «Der Zopf oder: Rapunzel» lässt Hans-Jürg Willi die später glücklich verheiratete Königin Rapunzel – hellsichtig in die Zukunft blickend – ihren Kindern erzählen: «Im Winter 2020 gab es eine Seuche. Man nannte sie Covid-19. Sie verbreitete sich über die ganze Erde. Die Regierungen schlossen die Landesgrenzen, alle Schulen und die meisten Kaufläden. Nur mit wenigen Ausnahmen durften die Menschen ihre Wohnungen verlassen. Viele verbrachten die Zeit wie ich: singend. Das taten sie auch auf den Balkonen. Zudem wuchsen die Haare wie mein Zopf. Selber Haare zu schneiden war schwierig. In der Zeitung stand, der Weltmeister Sebastian Vettel im Thurgau sei unzufrieden: nicht nur, weil er keine Rennen fahren, sondern auch, weil er seine Haare nicht schneiden lassen konnte. Erst nach zwei Monaten begann das Leben langsam, sich zu normalisieren.»

Märchen und Sagen als «Verkleidung»
Geschrieben hat der im Ruhestand lebende Arboner Sekundarlehrer und langjährige Kirchenpräsident seine «Dornenkrone» in 60 Tagen während der Coronazeit im Frühling 2020. Auf die Idee, die Beschreibung des Coronaalltags mit Märchen und Sagen zu verbinden, kam der Verfasser, nachdem ihm seine Ehefrau Erica zu seinem ursprünglich geplanten Buchprojekt beschieden hatte, «so etwas Trockenes könne man niemanden zumuten». So liess er sich davon leiten, seine Gedanken zur Coronasituation in einer literarisch-belletristischen Verkleidung als Märchen und Sagen zu verfassen. Die Verbindung zur Gegenwart ist nicht überall so naheliegend, wie beim Märchen «Hänsel und Gretel», wo es sich fast aufdrängte, bei Greta Thunberg, bei der Klimajugend und beim Klimawandel zu «landen». 

Trotz Coronabezug bleibt der Autor in seinen Erzählungen dem Charakter der historischen Vorlagen treu: «Ein Märchen beginnt mit ‹Es war einmal›, es geht gut aus, es dient zur Unterhaltung und es endet mit dem Satz ‹Und wenn sie nicht gestorben sind…› Eine Sage beginnt mit ‹Vor langer Zeit…›, sie nimmt oft einen bösen Ausgang und sie will den Leserinnen und Lesern eine Ermahnung sein.»

Schuldenerlass auf SĂĽndenablass verkĂĽrzt?
Unter dem Titel «galiläische Märchen» ist ein ganzes Kapitel des Buches biblischen Geschichten gewidmet. Auch sie setzt Willi in Bezug zur Coronazeit. Wie ein roter Faden zieht sich der alttestamentliche Schuldenerlass durch die Gedanken, die sich der Erzähler zu biblischen Texten macht. Willi ist überzeugt, die von Paulus und von der Kirche vorgenommene Beschränkung des Schuldenerlasses («Vergib uns unsere Schulden!») auf sittliche Verfehlungen habe die ursprüngliche Forderung nach einem alle sieben Jahre fälligen Schuldenerlass unzulässig «verkürzt». In seiner Erzählung «Der Gelehrte oder: S-paulus» stellt Willi am Schluss ernüchtert fest: «Weil aber die vom bekehrten Gelehrten (Paulus) verkündigte Umdeutung von geldmässigem Schuldenerlass in glaubensmässigen Sündenablass nicht gestorben ist, lebt sie auch heute noch.»

Lichtblick zum Schuldenerlass
Trotzdem sieht Willi in der Coronazeit beim Gegensatz von Arm und Reich in der Welt einen Lichtblick: «Die meisten Staaten der Welt haben in der Coronakrise erkannt, dass Geld bereitgestellt werden muss, damit die Wirtschaft nicht zusammenbricht. In der politischen Diskussion wurde über einen Mietzinserlass für Ladenbesitzerinnen und -besitzer, Gewerbetreibende und Kulturschaffende diskutiert.» Der alttestamentliche Schuldenerlass und der Gegensatz zwischen Arm und Reich in dieser Welt ist ein Thema, das Willi zeitlebens beschäftigte. Es hat auch in seinem Buch «Dornenkrone» einen Platz gefunden und soll die geneigte Leserin und den geneigten Leser zum Nach- und Weiterdenken anregen.

 

(Ernst Ritzi)

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