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Caring Communities: Kein Schlaraffenland, sondern ein gemeinsames Picknick

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14.09.2021
Das Engagement der Freiwilligen spielt im sozialen Bereich künftig eine grosse Rolle. Dafür braucht es aber das Bekenntnis der Politik und eine gerechte Verteilung der Care-Arbeit, wie eine kirchliche Tagung zeigte.


Mittagstisch, Besucherdienst, Heilsarmee oder WFF. In der Schweiz gibt es unzählige Institutionen und Freiwillige, die sich für andere einsetzen, gerade in der Kirche. In Zukunft werden solche Caring Communities in der Gesellschaft eine bedeutendere Rolle spielen.

Am 11. September trafen sich im reformierten Zentrum Mischeli in Reinach Interessierte und Fachleute zur Tagung «Caring Communities», veranstaltet von der Diakoniekommission und der Fachstelle Gender und Bildung der reformierten Kirche Baselland. Die Grussworte von Rita Famos, Präsidentin der reformierten Kirche Schweiz EKS, und Thomas Weber, Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektor sowie Regierungspräsident des Kantons Baselland, unterstrichen die Bedeutung des Themas über den Kanton hinaus und verbanden es mit der Politik.

Für Rita Famos sind «die Sorge um den Nächsten, das Schaffen von Gemeinschaft und öffentliche Mitverantwortung seit jeher Teil unserer Sendung und Mission». Die Kirche leiste einen wichtigen Beitrag zu Caring Communities. Auch der Baselbieter Kirchenratspräsident Christoph Herrmann wies auf die christliche Tradition der Solidarität hin. «Jesus hat nicht nur weise Gedanken weitergegeben, er hat auch gehandelt.» In der Bibel finde man unzählige Geschichten von Caring Communities, von gelebtem Miteinander.

Eine Sorgekultur entwickeln
Sorge und Mitverantwortung seien ein zentraler diakonischer Auftrag, betonte Cornelia Hof, Kirchenrätin und Präsidentin der Diakoniekommission der reformierten Kirche Baselland. Die Pandemie habe gezeigt, wie bedeutsam Solidarität sei. Es gehe darum, eine Sorgekultur zu entwickeln: «Wir wollen hinsehen, zuhören, darüber reden und handeln.»

«Caring Communities entstehen, wenn Menschen füreinander sorgen und einander zuhören. Sie sind enorm wichtig. Alle sind gefordert, zueinander zu schauen», sagte Regierungsrat Thomas Weber, insbesondere unter den aktuellen «Einschränkungen und Ausgrenzungen». Weber wies auf die Aktion fürenand.baselland.ch hin. Der Kanton ruft auf dieser Webseite zur Solidarität auf, gibt Tipps für Hilfsangebote und fordert dazu auf, die Botschaft weiterzuleiten.

Kirche als zentrale Playerin
Peter Zängl, Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, forscht über sorgende Gemeinschaften und engagiert sich im Netzwerk Caring Communities. In seinem Referat ging es um eine Definition von Caring Communities. Die Kirche ist für ihn «eine zentrale Playerin» bei der Schaffung von sorgenden Gemeinschaften. Er wies darauf hin, dass viele Begriffe rund um das Thema aus der kirchlichen Soziallehre und Ethik stammen.

Sorgende Gemeinschaften lebten Nächstenliebe, echte Begegnung und gesellschaftliche Beteiligung, so Zängl. Unter dem Motto «Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es» verwirklichten sie eine Haltung und eine Kultur. Werte wie Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, Anerkennung von Verschiedenheit und gemeinschaftliche Verantwortung müssen für Zängl «klar erkennbar sein in der Beschreibung des Ziels von sorgenden Gemeinschaften: Wie können wir ein gutes Leben verwirklichen?»

Doch der Soziologe warnte auch: «Eine Caring Community ist weder eine eierlegende Wollmilchsau noch das Schlaraffenland. Eine Caring Community ist eher ein Picknick, zu dem jede und jeder etwas mitbringt und nehmen kann, was sie oder er wirklich braucht.»

Ohne Staat geht es nicht
Zängl unterstrich die «starke politische Komponente». Neben der individuellen Frage «wie will ich leben?» sieht er den Staat in der Verantwortung, etwa für die Wohlfahrt. Der Sozialstaat müsse die Menschen unterstützen, wenn die Familie, Freunde und Nachbarn dies nicht mehr leisten können. Der Austausch zwischen Staat, Freiwilligen, Angehörigen und der Nachbarschaft müsse funktionieren und die Verantwortlichkeiten geklärt sein.

Drei kritische Thesen
Zängl beendete seine Überlegungen mit drei kritischen Thesen zu Problemen, mit denen man sich bei aller Begeisterung für das Modell der Caring Communities befassen müsse.

- Die Care-Arbeit ist ungerecht verteilt. Weil die Frauen die Hauptlast tragen, ist die Arbeit nicht anerkannt. Unbezahlte Care-Arbeit führt für Frauen zu Mehrbelastung.

- Ein «heisses Herz» reicht nicht aus, «es braucht den harten Franken», um Caring Communities zu verwirklichen. Zängl plädiert für eine nachhaltige Finanzierung und staatliche Rahmenbedingungen statt blosser Projektförderung. «Es ist ein gesellschaftspolitisches Thema, man muss die Politiker in die Pflicht nehmen».

- Ein gutes Leben ist mehr als Gewinnmaximierung. Deshalb braucht es ein anderes Verständnis von Wertschöpfung und neue Wirtschaftsmodelle sind gefragt, etwa Gemeinwesen- oder Sharing-Ökonomie.

Kirchgemeinden als sorgende Gemeinschaften
Simon Hofstetter, Leitung Stab «Diakonie Schweiz», hat soeben das Buch «Gemeinsam Sorge tragen. Das Potenzial der Diakonie für sorgende Gemeinschaften» herausgegeben. Die Kirchgemeinden praktizierten seit jeher vielfältige Sorgenetzwerke, sagte Hofstetter. Von den sorgenden Gemeinschaften könnten die Kirchgemeinden lernen, für die Menschen zu arbeiten und zu ihnen zu gehen, anstatt mit Veranstaltungen vor Ort auf allfällig interessierte Gäste zu warten.

Die Kirchgemeinden wiederum verfügen über Ressourcen, die für Caring Communities äusserst wertvoll seien: einen Standortvorteil, bestehende Projekte und Beziehungen, kirchliche Gebäude an guten Lagen, niederschwellige Zugangsmöglichkeiten und viele Freiwillige. «Die Landeskirchen bieten den grössten Freiwilligendienst des Landes», so Hofstetter.

Das Verständnis, wie wichtig die Teilhabe an der Gemeinschaft für den Menschen ist, sei den Kirchgemeinden in die Wiege gelegt. Paulus sah die Gemeinde als Leib Christi, als Körper: Alle Mitglieder tragen ihr Mögliches bei, ihr Engagement erfolgt bedingungslos und man muss nicht erst etwas leisten, bevor man etwas empfangen darf.

Gefahr der Romantisierung
Wie Peter Zängl blendete Simon Hofstetter die heiklen Aspekte in der Diskussion um Care Communities nicht aus und betonte die Einbindung in die Politik. «Caring Communities funktionieren nicht ohne Caring Democracy», erklärte der Theologe. «Ein Netzwerk ist auf Dauer nur tragbar, wenn gerechte soziale Bedingungen und Geschlechtergerechtigkeit herrschen.» Der politische Rahmen und die Unterstützung der Gesamtgesellschaft seien unerlässlich. Die Sozialpolitik etwa müsse zur Vereinbarkeit von häuslicher Pflege und Beruf beitragen. Hofstetter warnt vor der Romantisierung von Familie und Nachbarschaft: «Gemeinschaften und Familien können nicht alles alleine leisten. Es braucht die Mitwirkung von Professionellen.»

Karin Müller

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