News aus dem Thurgau

«Der christliche Glaube ist ein zentraler Teil ihrer Überzeugung»

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21.12.2021
Die einstige Weggefährtin Annette Schavan über die Pfarrerstochter Angela Merkel, die in den letzten 16 Jahren die Fäden in Europa gezogen hat.

Annette Schavan, Kanzlerin Angela Merkel hat sich für ihren Abschied beim grossen Zapfenstreich unter anderem das Kirchenlied «Grosser Gott wir loben dich» gewünscht. War dies Ausdruck ihres Glaubens?
Ja. Angela Merkel ist in einem evangelischen Pfarrhaushalt gross geworden. Ihr Vater war evangelischer Pfarrer in der Uckermark. In den vielen Jahren ihrer Kanzlerschaft gab es immer wieder Situationen, in denen deutlich wurde, der christliche Glaube ist ein zentraler Teil ihrer Überzeugungen. So stark, dass dies auch politisch relevant wurde.

Wie zeigte sich dies in ihrer Politik?
Für Angela Merkel war die Prägung als evangelische Christin nicht nur abstrakte Theorie, sondern auch sichtbar. Es zeigt sich in dem besonderen Respekt, mit dem sie jedem Menschen begegnete. Oder in ihrer Flüchtlingspolitik und ihrer Haltung, die Grenzen offen zu halten. In ihrer Politik kamen Humanität und politische Klugheit zusammen. Viele politische Situationen, vor allem international, hat sie mit einem langen Atem und viel Geduld gestaltet, so dass gute Kompromisse entstehen konnten.

Die Kanzlerin pflegte auch regelmässig Kontakt zum Papst.
Zwischen Angela Merkel und Papst Franziskus stimmte die Chemie. Die Kanzlerin hatte in ihrer Amtszeit fünf Audienzen beim Papst und sie teilten im Blick auf die gesellschaftspolitischen Prioritäten vergleichbare Überzeugungen. Im Buch, das ich über die Ära Merkel veröffentlicht habe, schrieb Papst Franziskus ein Geleitwort.

Warum erwies sich Angela Merkel als gute Krisenmanagerin? Was war ihr Rezept?
Ihre Unaufgeregtheit, ihr langer Atem und ihre Sachorientiertheit. Ich nenne dies ihre Demut vor den Fakten. Das wurde vor allem in der Zeit der Pandemie deutlich. Angela Merkel hat oft darauf hingewiesen, zur Kunst der Politik gehöre es, nicht Fakten verbiegen zu wollen, sondern sich ihnen zu stellen und damit umzugehen. Und dann gelang es ihr auch, andere von gemeinsamen Lösungen zu überzeugen, gerade wenn ich an Europa denke.

In ihrer Amtszeit musste sie auch viel Kritik einstecken. Die Leute protestierten mit «Merkel muss weg»-Rufen auf der Strasse. Hat sich dadurch ihre Persönlichkeit mit den Jahren verändert?
Angela Merkel legte sehr viel Wert auf ihre innere Unabhängigkeit. Sie wollte auch selbstbestimmt von der Bühne abtreten. Diese innere Unabhängigkeit ermöglichte es ihr, einigermassen gelassen mit der Kritik und unangenehmen Situationen umzugehen. In der Politik ist es generell eine wichtige Haltung, sich unabhängig von Lob und Tadel zu machen – soweit das einem Menschen überhaupt möglich ist.

Woraus hat Angela Merkel ihre Kraft geschöpft?
Sie hat am Zapfenstreich von der Fröhlichkeit des Herzens gesprochen und davon, dass das Kanzleramt herausfordernd war und gleichzeitig viele Möglichkeiten der Gestaltung zuliess. Will heissen: Sie hat die Aufgabe gerne getan und diese Freude ist eine Kraftquelle.

Welches Erbe hinterlässt Angela Merkel?
Zu ihrem Erbe gehört es, dass sie leidenschaftlich für den Zusammenhalt gearbeitet hat. Emmanuel Macron beschreibt in dem Buch, wie sie in schwierigen Situationen leidenschaftlich und gleichzeitig ruhig gehandelt hat. Sie zeigte Respekt gegenüber anderen, säte kein Misstrauen und keine Missgunst und kanzelte andere nicht ab. Sie stellte alle Menschen in den Mittelpunkt ihres politischen Handelns, nicht nur jene, die sie kannte.

In Ihrem Buch äussern sich die verschiedensten Weggefährten über Angela Merkel. Warum dieses Buch?
Das war die Idee des Verlages, die ich gut fand. Natürlich werden die Historiker in einigen Jahren diese Ära genauer analysieren. Wir wollten jedoch mit diesem Buch einen ersten Blick auf die letzten 16 Jahre werfen und die verschiedensten Erfahrungen aus der Politik, Zivilgesellschaft und Kultur festhalten. Und nicht zu vergessen der Fussball. Über Angela Merkel zu schreiben, ohne über Fussball zu reden, geht eigentlich nicht.

Die Bundeskanzlerin ist jetzt pensioniert. Hätten Sie einen Tipp für die Jungrentnerin Merkel?
Ich wünsche ihr zunächst Zeit für alles, wofür sie bis jetzt keine Zeit hatte. Ich bin überzeugt, sie wird weiterhin eine wichtige Ratgeberin bleiben und noch manches Mal um Vermittlung gebeten.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online

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