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Affeltrangen hat die jüngste Glocke

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09.12.2022
1986 wurde die derzeit jüngste Glocke gegossen, die in einer Thurgauer evangelischen Kirche beheimatet ist. Sie erklingt im Kirchturm von Affeltrangen. Ihre Geschichte markiert den Startgong zur diesjährigen Glocken-Serie im Kirchenboten.

«Fest gemauert in der Erden steht die Form, aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden. Frisch, Gesellen! Seid zur Hand.» Friedrich Schiller war es, der am Ende des 18. Jahrhunderts sein «Lied von der Glocke» zu Papier brachte. Er war fasziniert vom Tun in der Glockengiesserei gewesen, die dem Vater eines Schulfreundes gehört hatte. Lange Jahre trug er sich mit dem Werk, das zu den bekanntesten Klassikern der Lyrik zählt und das Lebensweisheit mit dem Werden und der Bestimmung einer Glocke verbindet.

Nicht-biblisch, aber reformiert
Dass die evangelischen Kirchen reformierter Prägung zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Geläut der Glocken festhielten, ist nicht selbstverständlich. Zugunsten der Konzentration auf das Wort Gottes verschwand so mancherlei, was von Wort und Sakrament hätte ablenken können. So war es mancherorts sogar um den Verbleib der Orgel und der Kirchenmusik allgemein kritisch bestellt.

Allenfalls 4. Mose 10 gibt eine Möglichkeit biblischer Rechtfertigung zum musikalischen Ruf zum Gottesdienst: Zwei silberne Trompeten soll Mose fertigen, die unter anderem diesem Zweck dienen sollen. Doch bot der Kirchturm den Glocken wohl den ausreichenden «Sicherheitsabstand» vom liturgischen Geschehen, so Urs Naef-Jakob. Die Glocke «ruft zum Heiligen, ohne selbst in die Nähe des Heiligen zu geraten». Doch die Namen der Glocken, wenn man auch bestehende Geläute beliess, wurden «reformiert modernisiert» und funktionalisiert: «Die Glocke (kann) nach reformiertem Verständnis kaum mehr Funktionen haben als Künderin zu sein von kirchlichen Versammlungen, gottbewusstem Leben und Signalen der Gemeinde.»

Glocke wird «geboren»
Und doch zeigt sich bis in den gegenwärtigen Sprachgebrauch etwas von dem Entrücktsein der Glocken hoch oben im Turm – sie sind durch ihren Klang Teil des Alltags und sind doch noch mehr. Es ist nicht mehr die voraufklärerische Magie des Geläuts. Und doch berührt der Glockenklang auch heute viele Menschen in einer nicht erklärbaren Dimension der Verbundenheit irdischer und himmlischer Wirklichkeiten, die uns mit unserem Denken und Fühlen allein nicht zugänglich sind.

So kann, wenn eine neue Glocke gegossen wird, durchaus bis in die Gegenwart hinein davon die Rede sein, dass eine Glocke «geboren» wird. In solcher Quasi-Personalisierung kommt die besondere Aufgabe einer Glocke ebenso zum Ausdruck wie in dem Sprachgebrauch, dass eine solche im Turm «wohnt» und nicht etwa dort «hängt». Für die evangelische Kirche in Affeltrangen war die 1986 in der Giesserei H. Rüetschi AG in Aarau gegossene Glocke bestimmt. Sie zog damals als Taufglocke in den Turm ein und komplettierte als fünfte Glocke das Geläut.

Gekrönt und mit Bestimmung
Die jüngste Glocke misst – ihre «Krone» mitgerechnet – 79 Zentimeter in der Höhe und weist einen Durchmesser von 83 Zentimetern auf, wobei sie 345 Kilogramm «auf die Waage» bringt. Sie ist damit die kleinste und leichteste Glocke des Affeltranger Geläutes. Im Vergleich dazu ist die grösste der fünf Glocken, die Predigtglocke, 169 Zentimeter hoch, im Durchmesser misst sie 170 Zentimeter und wiegt beinahe drei Tonnen. Dass wir all dies so genau wissen können, ist dem Thurgauer Hans Jürg Gnehm zu verdanken, der Zeit, Sachverstand und Herz seit vielen Jahren den Glocken widmet. Wie das Affeltranger Geläut klingt, hören Sie im Video (siehe weiter oben).

Die kleinste Affeltranger Glocke hat, so der Glockenkenner, einen «ruhigen Nachhall». Ihre Bestimmung: Zeichen zu geben von der Taufe eines Menschen. In Kombinationen kann die auf den Schlagton h’ gestimmte Glocke im Dreiergeläut die fis’- (Morgenglocke) und die a’-Glocke (Abendglocke) ergänzen, so dass das «Te Deum Motiv» erklingt. Im Vierergeläut ist sie entweder in einem reinen h-moll-Akkord oder – in anderer Kombination – als Geläut, das die ersten vier Takte des Chorals «Wachet auf, ruft uns die Stimme» entstehen lässt, zu hören.

Schweiss und Segen
Entstehung, Aufzug und Läuten der Glocken war früher mit körperlicher Anstrengung verbunden. Immer wieder erzählen inzwischen älter gewordene Kirchbürger von der Ehre, die ihnen als Kindern zuteilwurde, als sie beim Glockenaufzug mithelfen durften. Heute ist vielleicht auch die Spannung, die Oberstufenschülerinnen und -schüler äussern, wenn sie den Turm erstmals besteigen und die Glocken «besuchen» dürfen, ein Zeichen für die Bedeutung, die dem Glockendienst über das reine «Signalsein» doch zukommt. Sie weisen darauf hin, dass das Leben mehr ist als das, was wir sehen und «machen » können.

Ihr Klang erinnert uns nicht nur an Ereignisse wie Abdankung, Hochzeit, Taufe oder eben die Uhrzeit, die sich beim Vertrautsein mit dem Glockenklang «erhören » lässt. Sie erinnert darüber hinaus an Gottes Beziehung zu unserem Dasein. Noch einmal sei Schiller zitiert, der diese Einsicht im «Lied von der Glocke» in die Worte fasste: «Von der Stirne heiss rinnen muss der Schweiss, soll das Werk den Meister loben. Doch der Segen kommt von oben.»

Vielfalt und Geschichte
Gegenwärtig geraten Glocken immer wieder in die Schlagzeilen. Nach Wilhelm Busch, Dichter des 19. Jahrhunderts: «Musik wird störend oft empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden. » Was den einen freut, ist des andern Leid… Auch dem Klang der Glocken geht es nicht anders. Wenn es sicher auch Gründe gibt, Zeiten des Kirchengeläuts den sich verändernden Gewohnheiten der Menschen anzupassen – Glocken und ihr Klang unterbrechen auf besondere Weise den Alltagsfluss, lassen aufmerken auf die weitere Dimension des Lebens. Manches wird bedeutungsvoller, wenn wir es besser und tiefer verstehen.

 

(Karin Kaspers Elekes)

 

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