News aus dem Thurgau

Glück geht dem Geld vor

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23.04.2019
Arbeit sichert die Existenz, sie ist aber auch wichtige Quelle der Anerkennung und Wertschätzung. Marlen Bolliger, Psychologin und Psychotherapeutin, analysiert.

Frau Meier* sitzt mir vor Energie sprudelnd gegenüber. Sie erzählt begeistert von ihrem neuen Job in einer Werbeagentur, wo sie seit einem Monat als Grafik-Designerin
arbeitet. 

Die neue Tätigkeit bereite ihr Freude, ihre Ideen seien gefragt, sie könne die Projekte von Anfang bis zum Schluss bearbeiten. Die Kunden schätzten ihre Erfahrung und krea-
tiven Vorschläge bei der Entwicklung der Projekte. Sie fühle sich auch im Team willkommen. Die Vorgesetzte unterstütze sie bei der Einarbeitung und nehme ihre Anregungen und Vorschläge interessiert auf. 

Absagen nach Bewerbungen
Ich begleite Frau Meier seit einem Jahr in der Psychotherapie. Infolge der monatelangen Arbeitslosigkeit entwickelte die 56-Jährige eine Depression. Die wiederholten Absagen auf ihre über hundert Bewerbungen beeinträchtigten ihr Selbstwertgefühl. Sie wurde zunehmend mut- und antriebslos. Das Aufstehen am Morgen wurde immer schwieriger, denn sie sah darin keinen Sinn. Eine geregelte Tagesstruktur einzuhalten fiel ihr schwer. Als Alleinstehende war sie oft einsam und musste sich um jeden Kontakt selber bemühen. Wenn sie sich emotional im Loch fühlte, kostete es sie grosse Überwindung, sich einer Freundin zuzumuten. Sie zog sich immer mehr zurück und entwickelte Existenzängste. Wie soll das Leben ohne Job weitergehen? 

«Arbeitslosigkeit ist immer verbunden mit Kränkung und Ohnmacht.»

Die Arbeit ist für uns eine wichtige Quelle für Anerkennung und Wertschätzung, was Nahrung ist für unser Selbstwertgefühl. Bei der Arbeit haben wir Kontakte mit Arbeitskolleginnen und -kollegen, sind eingebunden in ein Team und fühlen uns zugehörig – ein menschliches Grundbedürfnis. Durch die Arbeit gewinnt unser Leben Sinn. Motivation und Arbeitsfreude sind wichtige Energiespender. Arbeitslosigkeit ist immer verbunden mit Kränkung und Ohnmacht. Halten solche Gefühle längere Zeit an, sind sie psychisch belastend und können die Gesundheit gefährden. 

Glücksgefühle bei der Arbeit
Wenn wir unsere eigenen Fähigkeiten und Talente bei der Arbeit sinnvoll einsetzen können, erleben wir Bestätigung und Motivation, was unsere Einsatzbereitschaft fördert. Wir erleben eine sinnvolle Tätigkeit zutiefst wohltuend. Wenn die Anforderungen einer Tätigkeit mit den persönlichen Fähigkeiten gut übereinstimmen, können wir gar ein ausserordentliches Glücksgefühl erleben. Arbeitsforscher nennen es «Flow». Das zutiefst befriedigende Gefühl stellt sich ein, wenn wir hoch konzentriert sind, weil eine Tätigkeit unsere ganze Aufmerksamkeit erfordert. Wir gehen ganz in der Tätigkeit auf und vergessen die Zeit. Stunden vergehen wie Minuten. Solche Glücksgefühle stellen sich allerdings nur ein, wenn wir in einer störungsfreien Umgebung arbeiten (können).

Arbeit kann erschöpfen
Dass uns die Arbeit auch überfordern kann, hat Frau Weder* erlebt. Sie ist verzweifelt. Zum dritten Mal innert eines Jahres ist sie erschöpft, fühlt sich ausgelaugt, mutlos und ohne Antrieb, muss bei der Arbeit pausieren. Nach einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt kommt sie in der Psychotherapie den Gründen ihrer Erschöpfung auf die Spur. Als Lehrperson hat sie drei Klassen gleichzeitig unterrichtet, Elterngespräche geführt, sich an den Projekten im Schulhaus zur Schulentwicklung beteiligt, viel Administratives erledigt, Absprachen mit Fachpersonen rund um die Schule getätigt. In der Therapie wird ihr bewusst, welche inneren Antreiber sie dazu veranlassen, ihre eigenen Grenzen wiederholt zu überschreiten, die Warnsignale des Körpers nicht zu beachten und weiter zu funktionieren. Eine innere Stimme mahnt sie ständig: «Eine gute Lehrperson kann mit diesen Stressfaktoren umgehen! Mit mir stimmt etwas nicht.»

Vorsicht bei Dauerstress
Im Seminar für Führungskräfte zum Thema Selbstmanagement und Energiebalance fragt mich eine Teilnehmerin: «Weshalb erkranken heute so viele Menschen an Burnout? Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten wir so viel Freizeit wie heute in den westlichen Gesellschaften. Der Wohlstand ist hoch, das Angebot für Erholung und Ausgleich vielfältig und so zahlreich wie nie zuvor.»

Bedeutung hat sich geändert
Tatsächlich: Vor dem Zeitalter der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war der grösste Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, danach in den städtischen Fabrika- tionsanlagen. Das Leben drehte sich hauptsächlich um die Arbeit als Existenzsicherung. Menschen verbrachten den grössten Teil ihres Lebens bei der Arbeit. 

Die Bedeutung der Arbeit hat sich seither stark verändert. Es geht nicht mehr nur um Existenzsicherung respektive die Familie zu ernähren, sondern auch um Sinngebung und Selbstverwirklichung.

Heute ist es nicht die zeitliche Beanspruchung, welche Menschen auspowert, sondern das geforderte Tempo, der Leistungs- druck, die Arbeitsplatz-Unsicherheit und Zukunftsängste belasten uns. Kurz gesagt: Stress. Negativer Stress ist das Erleben eines Menschen, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein und Probleme nicht angemessen lösen zu können. Im Stress wird unser Körper durch Hormonausschüttung in Alarmbereitschaft versetzt. Das ist sinnvoll, um kurzfristig körperliche Kräfte zu mobilisieren. Hält Stress jedoch über längere Zeit an, kann er uns krank machen. In der Schweiz leidet jede dritte arbeitende Person unter Stress. 

Führungskraft als Schlüsselfigur
Arbeit ist wichtig für unsere psychische Gesundheit, birgt jedoch gleichzeitig auch Risiken. Untersuchungen zeigen, wie gross der Einfluss der Führungskraft auf unser Stress-Erleben und den Umgang mit Druck ist. Mit verständnisvollen und wertschätzenden Vorgesetzten leiden nur fünf Prozent der Mitarbeitenden unter Stress, im Gegensatz zu 95 Prozent, wenn der Vorgesetzte viel kontrolliert, kritisiert und wenig Unterstützung bietet. Kurz: Ob uns die Vorgesetzte den Rücken stärkt oder uns im Nacken sitzt, hat Auswirkungen auf unsere Gesundheit. 

Generation Y – gesunde Einstellung zur Arbeit

Im Seminar zum Thema «Leadership» klagten kürzlich gleich mehrere Führungskräfte, dass sich jüngere Mitarbeitende kaum mehr ans Unternehmen binden liessen. Sogar die Aussicht auf Gehaltserhöhung könne qualifizierte Fachpersonen nicht vom Weggang abhalten. Forscher haben das Verhalten verschiedener Generationen untersucht. Die 20- bis
35-Jährigen bilden die sogenannte Generation Y. Die junge, motivierte und technikaffine Generation will selbst denken und handeln und zudem eigenverantwortlich, mobil und flexibel arbeiten. Sie legt Wert auf Sinnhaftigkeit bei der Arbeit. Talente und Fähigkeiten werden gezielt für nachhaltige gesellschaftliche Entwicklungen eingesetzt. Eine persönliche Entfaltung durch den Job ist der Generation «why» wichtiger als Karriere im klassischen Sinne. Glück geht dem Geld vor. Leistung und Lebensgenuss gehören für diese Generation zusammen. Es wird intensiv gearbeitet und haushälterisch mit den eigenen Kräften
umgegangen. Diese Generation hat von ihren Eltern gelernt.

* Name geändert

www.dreifach.ch

 

Text: Marlen Bolliger, Psychologin, Psychotherapeutin FSP, St. Gallen | Foto: Katharina Meier – Kirchenbote SG, Mai 2019

 

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