News aus dem Thurgau

Schule als sicherer Ort

min
01.01.2016
Bei der Integration von Flüchtlingskindern leisten die Volksschulen eine zentrale Rolle. In der Stadt St.Gallen werden seit 1987 Integrationsklassen geführt, in denen Kinder von Migranten und vermehrt von Flüchtlingen beschult werden. Hier ein Bericht aus dem Schulalltag am Beispiel von Tafari aus Eritrea.

Ein A4-Blatt mit einem fremdländischen Namen und einer Notiz über Herkunft und Zeit des ­Eintreffens liegt in meinem Fächli: Ein neuer Schüler meldet sich an. Wer sich wohl hinter dem Namen verbirgt? Was für ein Schicksal hat er hinter sich? Neben wem soll er sitzen? Wird er sich bei uns wohl fühlen?

Unterschiedliche Anfahrtswege
Im Moment sitzen 10 Kinder aus Eritrea, Albanien, Syrien, Italien, Griechenland, Russland, Somalia, der USA und der Türkei im Schulzimmer – eine bunt gemischte Schar von Mädchen und Knaben im Alter zwischen 10 und 14 Jahren, wobei nicht alle ihr Geburtsdatum kennen.
Meistens sind die Kinder in die Schweiz gekommen, weil ein Elternteil hier Arbeit gefunden hat. Vermehrt kommen nun Flüchtlingskinder dazu. Gemeinsam haben sie alle eine bewegte Geschichte. Einige haben mit nur einem Elternteil den Weg in die Schweiz gefunden. Über Jahre waren sie vom Vater oder der Mutter getrennt, bis der andere Elternteil nachreisen durfte.
 
So unterschiedlich die Anfahrtswege sind, verbindet sie eins:  Sie haben ihre Freunde, Nachbarn und Verwandten zurücklassen müssen, alles, was ihnen vertraut und lieb war. Hier müssen sie neue Regeln kennen lernen, unsere Art, den Alltag zu gestalten. Und – das ist wichtig – sie sollen schnell Deutsch lernen, um nach etwa einem Jahr den Übertritt in eine Regelklasse in ihrem Quartier zu schaffen.

«Und wie immer, wenn er diese Geschichte erzählt, klagt er mit Tränen in den Augen, dass er seine Mutter nicht gut kenne, dass er seine Grossmutter vermisse.»

Tafari heisst er. Ein Junge mit dunklen Augen steht zusammen mit der Mutter und der Übersetzerin am Montagmorgen schüchtern vor der Tür. Er kommt aus Eritrea. Eine Rotkreuzbegleiterin hat ihn vor zwei Wochen am Flughafen der Mutter übergeben. Diese war bereits vor drei Jahren mit dem Boot über Italien in die Schweiz geflohen. Erst ein halbes Jahr später wird er in gebrochenem Deutsch erzählen, dass seine Grossmutter, bei der er gelebt hat, an einem Morgen seinen Koffer gepackt hat und anstatt in die Schule mit ihm zwei Tage barfuss über Felder nach Äthiopien gewandert ist. Er zeigt mir immer wieder die Verletzung am Fuss, die von einer spitzen Stoppel am Boden stammt. In Äthiopien hat ihn die Grossmutter der Rotkreuzhelferin übergeben. Und wie immer, wenn er diese Geschichte erzählt, klagt er mit Tränen in den Augen, dass er seine Mutter nicht gut kenne, dass er seine Grossmutter vermisse.

Schule als neue Heimat
Dann kommt sein neuer Freund Mehmet aus der Türkei dazu, klopft ihm auf die Schultern und nimmt ihn mit an seinen Platz im Morgenkreis. Hier begrüssen wir uns auf Deutsch. Wer schon länger da ist, sagt, welcher Tag heute ist, welche Jahreszeit, was für Wetter herrscht und wie es ihm geht – ein einfaches Morgenritual, das sie vertraut macht mit dem Heute und gleichzeitig den Wortschatz erweitert.
Nach einem gemeinsamen Lied beginnt der Unterricht. Die Kinder lernen mit Bildern neue Wörter, lernen lesen, rechnen und schreiben. Alle sind mit einem anderen Thema beschäftigt, da jedes Kind zu einem anderen Zeitpunkt in die Klasse gekommen ist. Dann gibt es auch Schüler, die zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Schulzimmer sitzen oder die zuerst einmal unser Alphabet lernen müssen. Da hat Tafari Glück – er hatte bereits vier Jahre Unterricht in Eritrea, auch etwas Englisch kann er schon und kennt deshalb unsere Buchstaben. Die Mathematik liebt er besonders, da ist er gut.

Schnell und viel lernen
Mit grossem Eifer schreibt er Wörter ab und will immer noch Zusatzaufgaben mit nach Hause nehmen. Seine Mutter ist oft da und wünscht, dass er schnell und möglichst viel lernt. Er soll hier gute Noten haben, damit er einmal etwas Gescheites erlernen kann. Manchmal erscheint sie auch, weil sie ein Formular, das sie nicht versteht, mit mir ausfüllen will.

Alles gut? Ja, Tafari lacht viel. Am Morgen rennt er mir schon von Weitem entgegen und umarmt mich. Wenn man ihn fragt, wie es ihm geht, sagt er: «Gut, und du?»
Und trotzdem: Da ist seine Schrift, die zeigt, dass viel Druck in ihm ist. Wenn er schreibt, haben seine Finger weisse Flecken vor Anstrengung. Beim Sprechen beginnt er plötzlich zu Stottern. Er stoppt, möchte viel erzählen, aber es fehlen die Worte. In der Pause gibt es oft Streit – weil man sich nicht versteht oder weil der innere Druck so gross ist, dass man einfach mal «Dampf ablassen» muss. Da hilft auch der Sport. Ich helfe ihm, einen Sportclub zu finden. Mit Freude geht er nun wöchentlich in einen Fussballverein und kann bald an Turnieren teilnehmen. Wie zur Schule, so findet er auch hier alleine den Weg mit dem Bus durch die Stadt.
Manchmal denke ich daran, wie sorgfältig ich meine Kinder jeweils in die Stadt begleitet habe und wie schnell dieser 11-jährige Junge ganz alleine mit dem Bus seine Wege findet – finden muss. Da staune ich schon.

Zeit und Geduld
Nach ungefähr einem Jahr wird er weitergehen in eine Klasse in seinem Wohnquartier. Wann genau und wie er den Sprung in eine Regelklasse schaffen wird, weiss ich noch nicht. Noch hat er grosse Lücken im Schulstoff. Und er muss hier viel lernen – viel mehr als nur Deutsch. Das braucht Zeit und Geduld – von allen Seiten.

Der Start ist gelungen. Er hat in der Integra­tionsklasse einen Rahmen erhalten, der es ihm ermöglicht, anzukommen. Hier lernt er Kinder kennen, die mit den gleichen Herausforderungen umgehen müssen. Er hat Lehrpersonen, die mit viel Engagement Beziehung gestalten, ihm und seiner Mutter Türen in der Schweiz öffnen, nicht nur die Schultüren, auch Türen zu einem Hobby oder Türen, um mit der Stadt und der Schule vertraut zu werden. Er lernt hier, welche Regeln gelten, und er durchlebt in einem Jahr all unsere Feste und Jahreszeiten. All dies schenkt ihm ein Stück Sicherheit, das, was ihm in den letzten Jahren in seinem Heimatland gefehlt hat.

Text: Ruth Monstein | Foto: pd  – Kirchenbote SG, Dezember 2015

 

Unsere Empfehlungen

Tel. 143 hört nicht nur am Tag des Zuhörens zu

Der 14. März ist der nationale Tag des Zuhörens. Doch die dargebotene Hand hört nicht nur dann zu. Wer die Nummer 143 wählt, sucht ein Gegenüber, möchte über Erlebtes erzählen, sucht jemanden zum Reden. Die rund 60 freiwillig Mitarbeitenden von Tel143 – der Dargebotenen Hand Ostschweiz/FL kommen ...

Wir sind Problem und Lösung

Klimawandel und weltweite Ungerechtigkeit: Was kann die einzelne Person dagegen tun? In Gaby Zimmermanns Augen wäre es fatal, nichts zu machen. Und deshalb unternimmt sie etwas. Die Romanshorner Gemeindeleiterin engagiert sich seit Jahren für einen liebevollen Umgang mit Tieren, unseren Mitmenschen ...