Erliegen wir einer kollektiven Trance?
Auf der einen Seite ist da die Geburt eines unehelichen Kindes in einem ärmlichen Stall. Ein überforderter Vater und eine blutjunge Mutter – obdachlos und bitterarm – kämpfen um den Anfang eines Lebens. Auf der anderen Seite kämpft die heutige Werbemaschinerie um Umsatz, stimmt uns seit Wochen auf Weihnachtskommerz ein und animiert uns zum Verbrauch von Ressourcen. Das göttliche Kind und die uralte Geschichte der schenkenden Könige befeuern einen jährlichen Geschenk- und Konsumrausch im Dienste der Liebe, was einen ausbeuterischen Raubbau beinhaltet.
Die Geschichte ist zu gut
Das göttliche Kind kommt nackt, bedürftig und bloss auf diese Welt – lassen wir es also krachen und spendieren ihm/uns was. Die Weihnachtsgeschichte liefert unserem Hang zum Konsum mitten in der dunkelsten Zeit – perfektes Timing! – die nötige Legitimation. Sogar abgeben an Bedürftige und Einsame liegt drin im Budget, die Kirche ist in diesem Bereich durchaus positiv präsent, ihr Wirken wird geschätzt und unterstützt. Doch nur keine grundsätzliche Infragestellung unseres verschlingenden Lebensstils und Fortschrittswahns. Ich selber erlebe die Advents- und Weihnachtszeit als eine kollektive Trance, in der Fest- und Geschenkfreude (Denken Sie an Ihre Liebsten! Zeigen Sie ihnen Ihre Liebe!) nicht infrage gestellt werden können, ohne dass man als Spielverderber gilt.
«Den Mund aufmachen, Protest einlegen, gegen die Zerstörung schreien, lachen, weinen und leben. »
Die Erlöser von heute
Wie aber denn Weihnachten feiern? Vielleicht ressourcenarm und einfach, auf den Spuren von Maria, Josef und der Hirten? Nicht von allmächtigen Diktatoren oder Präsidenten Erlösung erwarten. Sie bringen UnterdrĂĽckung und Auslöschung von eigener Kraft. Auch nicht auf die Allmacht der Wirtschaftsfachleute vertrauen. Sie spielen sich als die Weisen von heute auf, die uns Denken und Verantwortung ersparen, damit wir uns der Orgie des Konsums ĂĽberlassen. Sie predigen Fortschrittswahn und verraten – fast wie die Weisen damals – das Christkind an Herodes. Selber denken, selber handeln angesichts von Gefahr. Auf die eigenen Träume horchen. Dem Engel in der Nacht, der uns weckt und auch uns vor Gefahr warnt wie damals Josef vor Herodes, Folge leisten. Er raunt uns auch heute seine Botschaft zu. Fachleute – die heutigen Propheten – sagen es uns jährlich immer eindringlicher: «Wenn wir unseren Konsumrausch nicht baldmöglichst in den Griff bekommen, werden wir die HĂĽlle des Lebens definitiv ruinieren.» Nehmen wir das nicht gelassen hin und zucken die Schultern. Das ist nicht Schicksal.Â
Mut zur Achtsamkeit
Verlassen wir den Weg der Zerstörung. Weihnachten: Den Kräften der Hoffnung trauen, in uns geweckt in dunkelster Not, angesichts der Hilflosigkeit des göttlichen Kindes. Aufstehen, uns dem Zug Josefs und Marias anschliessen, die das Neugeborene schützen. Den Mund aufmachen, Protest einlegen, gegen die Zerstörung schreien, lachen, weinen und leben. In einer ärmlichen Hütte wird das Heil geboren, nicht in hell erleuchteten Palästen und Tempeln voller Plastik- und Elektronikzeugs, das Neugeborene weder jetzt noch später wirklich brauchen. Was sie brauchen, sind Eltern, Gemeinschaften und ganz konkret Kirchgemeinden, die achtsam mit Erdöl/Erdgas und den weiteren Ressourcen der Erde wie sauberer Luft, sauberem Wasser, intakten Urwäldern, prosperierenden Tierarten und vielfältigen Pflanzenarten umgehen (damit alles auch für sie reicht) und ihnen die Heisszeit und reduzierte Artenvielfalt, auf die wir mit unseren heutigen Ansprüchen zurasen, erspart bleibt. Denn wie uns Papst Franziskus ins Gewissen ruft: Wenn wir die Natur zerstören, wird sie uns und – falls wir noch verschont werden – spätestens dereinst einmal unsere Kinder zerstören.
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Text: Gina Schibler | Foto: Annie Spratt  – Kirchenbote SG, Dezember 2018
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Erliegen wir einer kollektiven Trance?