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Jetzt spielen mehr Engel im Konzert

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27.09.2019
Eines der grössten Meisterwerke der Malerei wird zurzeit renoviert: Der Isenheimer Altar in Colmar. Dadurch erhalten die Gemälde noch mehr Strahlkraft.

Was für die Katholiken die Pietà von Michelangelo, ist für die Reformierten der Isenheimer Altar im elsässischen Colmar. Wie selten ein Kunstwerk bringen die spätgotischen Tafeln das evangelische Glaubensverständnis auf den Punkt. Der Holzschnitzer Nikolas von Hagenau und der Maler Matthias Grünewald schufen das Retabel am Vorabend der Reformation, zwischen 1512 und 1516.

Das Zentrum der Altartafeln bildet die Kreuzigung und die Beweinung Christi. Grünewalds Darstellung des grausam entstellten Körpers des Messias ist eine der eindrücklichsten in der westlichen Welt. Seine Auferstehung, bei welcher der strahlende Christus im gleissenden Licht über dem Grab schwebt, scheint zeitlos. Doch auch am Isenheimer Altar nagt der Zahn der Zeit. Aktuell wird er aufwendig renoviert.

Unzählige Restaurationen
Im Laufe seiner über 500-jährigen Geschichte reiste der Wandelaltar durch halb Europa vom Périgord bis nach München. Die beiden Weltkriege überdauerte er in Verstecken. Es ist ein Wunder, dass er alles fast unbeschadet überstanden hat. Erstaunlich ist es auch, dass selbst der Pfusch der acht Restaurationen, die das Kunstwerk seit dem frühen 18. Jahrhundert erfuhr, seine Strahlkraft nicht minderte.

Die jüngste Restaurierung 2011 rief trotz unbestritten fachlich einwandfreier Arbeit Kritik hervor und wurde abgebrochen. Im Sommer 2019 wurde sie unter der Ägide von Antony Pontabry wieder aufgenommen. Für Pontabry fühlt es sich unglaublich an, ein solches Gemälde berühren und untersuchen zu können. Mit der Restauration sei für ihn ein Traum wahr geworden, der vor mehr als 35 Jahren begann, als er erstmals vor den Tafeln stand. «Der Isenheimer Altar ist eines der hundert Meisterwerke, welche die Geschichte unserer Zivilisation geprägt haben.» Andererseits hat das Kunstwerk auch eine religiöse Bedeutung. Grünewald konzipierte die Altartafeln so, dass die Patienten, die unter dem Antoniusfeuer litten, vor Christus am Kreuz beten konnten. Sie teilten ihr grausames Sterben an der tödlichen Pilzvergiftung mit dem Gekreuzigten, erklärt Pontabry.

Heute ist der Isenheimer Altar die Hauptattraktion in der Dominikaner-Kapelle im Ergänzungsbau des Unterlinden-Museums in Colmar. Den Umbau leitete das Architekturbüro Herzog und De Meuron. Die Basler gestalteten den Fussboden neu und «entrümpelten» die Sammlung. Durch die indirekte Beleuchtung aus textilgefiltertem Tageslicht und die diskreten Metalleinfassungen um die kunstvollen, holzgeschnitzten Rahmen gewannen die Tafeln an Tiefe. Die Vorrichtung der Metallrahmen erlaubt es, die Tafeln bei einem Brand in kürzester Zeit zu evakuieren.

Wieder hell und leuchtend
Antony Pontabry leitet ein Team von 21 Mitarbeitern, das die Restauration der Altarbilder vor dem Publikum ausführt. Eine Premiere in Europa. Vier Jahre lang sollen die Restaurationsarbeiten am ausgestellten Objekt dauern. Dabei sollen vor allem die teils schlecht alternden Firnisse und Farben früherer Restaurationen entfernt werden. «Unter dem dunkel und gelb gewordenen Restaurationslack konnte man die ursprünglich hellen, leuchtenden Farben wiederfinden», erzählt Antony Pontabry. «Einige Figuren, die unter dem Lack versteckt waren, sind jetzt perfekt sichtbar und nehmen ihren Platz in der Komposition ein, wie die Engel im Konzert der Engel oder bei der Madonna mit dem Kind.»

Farbe aus Eiern, Wurzeln und Schnecken
Trotz enormen technischen Fortschritten und wissenschaftlich neuen Erkenntnissen bedeutet die Restauration eines Renaissance-Kunstwerkes noch immer eine enorme Herausforderung für die Fachwelt. Dies illustriert die radiologische Analyse der verwendeten Farben. Vier Jahre lang arbeitete der allgemein als Matthias Grünewald bekannte Maler Mathis Gothart Nithart an seinem monumentalen Gemälde von zwei feststehenden und vier drehbaren Altar-Flügeln. Seine Farben konnte er nicht einfach in einer Drogerie um die Ecke kaufen. Er musste sie wie ein Alchimist aus gemahlenen Wurzeln, Schnecken, gequetschten Eiern von Schildläusen und sumpfigen Vermischungen von Kupferverbindungen zusammenmischen. Er experimentierte endlos, um herauszufinden, ob sich die verwendeten Naturmaterialien vertrugen und wie sie zur Farbe werden konnten. Oft konnte Grünewald einen bestimmten Farbton erst durch das Auftragen mehrerer Schichten erzielen.

Als er das Restaurations-Projekt vorstellte, wies Antony Pontabry darauf hin, dass die früheren unzulänglichen Restaurationen den Gesamteindruck und damit die Faszination des Werkes nicht beeinträchtigt haben. Man werde nur die Firnisse früherer Restaurationen entfernen, aber nicht bis zur gemalten Schicht des Originals vordringen. Reversibilität sei das Prinzip, so Pontabry, damit auch kommende Generationen die Möglichkeit haben, mit noch besseren Methoden das Werk in seiner ursprünglichen Strahlkraft zu erhalten.

Schönheit des Engelkonzerts
Pontabry verriet dem Kirchenboten, welche seine Lieblingsdarstellungen auf dem Altar sind. Beim Konzert der Engel bewundert er die Schönheit der Szene und die Qualität der Details. Fasziniert ist der Restaurator zudem vom «süssen Antlitz» der Jungfrau und des Kindes und von der Pracht ihres Faltenrockes. Auch das Gewand, das Christus bei der Auferstehung trägt, findet er aussergewöhnlich, weil seine Farbe je nach Intensität des Lichts von Gelb nach Rot, von Blau nach Lila und von Rosa ins Weiss wechselt. «Und ganz zu schweigen von Christus am Kreuz», schwärmt Pontabry. «Der ist einzigartig in der Geschichte der Malerei.»

Hat das Werk Pontabrys Sicht aufs Leben verändert? Der Restaurator verneint. Obwohl es eine aussergewöhnliche Arbeit sei, habe sich seine Einstellung zum Leben nicht geändert. Die Zeit vor dem Bild habe ihn nicht religiöser gemacht, obschon manche Leute diese Arbeit als wahres Priestertum ansähen. Ihm sei jedoch bewusst geworden, welch grossartiges Meisterwerk er restaurieren dürfe und welch grosse Verantwortung er damit trage.

Jürg-Peter Lienhard, Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 27. September 2019

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