News aus dem Thurgau

Auf den Spuren von Wiborada

von Inka Grabowsky
min
21.05.2024
Vor über 1100 Jahren hatte sich die heilige Wiborada in St. Gallen in eine Zelle einschliessen lassen. So konnte sie sich ganz dem Gebet widmen. Cathrin Legler hat diese Lebensweise eine Woche lang nachempfunden - als Inklusin (wörtlich: Eingeschlossene). Lesen Sie nachstehend zuerst den Bericht, bevor sie sich zurückzog. Und dann ihre Erfahrungen, wie sie diese Woche erlebte.

Vorher:
«Bist du bereit?»

 

«Kannst du allein sein?», «Hast du eine persönliche Gebetspraxis?», «Bist du bereit für die Menschen, die kommen, zu beten?» «Bist du psychisch stabil?» «Was ist deine Motivation?» Auf diese und ähnliche Fragen hat Cathrin Legler aus Kreuzlingen offenkundig die passenden Antworten gegeben.

Die Pfarrerin ist eine von fünf Teilnehmenden des Wiborada-Projekts in diesem Jahr. Ein ökumenisches Team will noch bis 2026, wenn sich der Todestag der St. Gallerin Wiborada zum 1100. Mal jährt, an die vergleichsweise unbekannte Heilige erinnern. Zu dem Zweck ist am Standort der frühmittelalterlichen Zelle an der Kirche St. Mangen ein moderner Nachbau entstanden.

«Will mich dem aussetzen»

Vom 10. bis 17. Mai wird Cathrin Legler die zwölf Quadratmeter bewohnen. Sie bleibt eine Woche, Wiborada hatte sich zehn Jahre — von 916 bis zur ihrem gewaltsamen Tod 926 — einschliessen lassen. «Mich fasziniert Wiborada als spannende Persönlichkeit des 10. Jahrhunderts», erklärt Legler. «Ihre Rolle als Heilige der katholischen Kirche ist für mich nicht relevant, auch wenn ich noch nie Berührungsängste mit anderen Konfessionen hatte.»

Legler ist in St. Gallen zur Schule gegangen, dementsprechend war ihr Wiborada schon lange ein Begriff. «Ich habe mich als junges Mädchen gefragt, wie man dazu kommt, sich einschliessen zu lassen. Ich will mich dem aussetzen. Mal sehen, was passiert, wenn man eine Woche in einem engen Raum ist.»

Den Menschen zugewandt

Die neu errichtete Zelle ist hell. Oberlichter lassen Sonnenschein hinein, auch dann, wenn die Fenster zur Kirche (damit man am Gebet teilnehmen kann) und zur Strasse (damit man mittags und abends für je eine Stunde mit Besuchern sprechen kann) geschlossen sind. Diese nur im übertragenen Sinn «niederschwelligen» Begegnungen sind der Pfarrerin besonders wichtig. «Ich stehe für Fürbitten zur Verfügung und bringe die Anliegen der Menschen vor Gott.»

Zusätzlich zu diesem Dienst sind die Eingeschlossenen gehalten, zur Selbstreflexion Tagebuch zu führen. Es wird später in die Stiftsbibliothek aufgenommen. «Ich vermute, ich werde zwei Varianten erstellen – eines für die Öffentlichkeit und eines für mich mit privaten Gedanken.» Ausserdem sollen sie sich mit Handarbeiten beschäftigen. Cathrin Legler hat sich das Stricken von komplizierten isländischen Mustern vorgenommen. «Und meine Bibel nehme ich mit. Langweilig wird mir sicherlich nicht.»

Erkenntnis durch Verzicht

Viele Thurgauer und Thurgauerinnen kennen Cathrin Legler durch ihre Aufgaben in der Landeskirche. Sie verantwortet etwa den Laiensonntag im November und bietet im Tecum immer wieder Kurse zum Meditieren an. Darauf vorbereitet ist sie unter anderem durch ein Masterstudium in «Ignatianischen Exerzitien und Geistlicher Begleitung».

«Mich fasziniert die Reduktion – auch beim Fasten. Das gilt für die Spiritualität genauso. Da neige ich eher zu stillen Varianten als zum lauten Lobpreis. Meine Familie weiss schon, dass ich immer mal wieder etwas Ungewöhnliches ausprobiere, drei Wochen Schweigen zum Beispiel.» Der Verzicht auf das Sprechen, auf Nahrungsmittel oder auf menschliche Gesellschaft dienen der Theologin nicht zur Selbstkasteiung, sondern zum Erkenntnisgewinn. «Bei dreissigtägigen Exerzitien habe ich das Gefühl von Einheit und die Gewissheit, dass da etwas ist, bereits erlebt. Aber erwarten kann man das nicht und erzwingen schon gar nicht.»

 

Nachher:
«Wirklich ein Härtetest»

 

«Ich würde es wieder tun, aber es bleibt ein einmaliges Erlebnis», sagt Cathrin Legler, die vom 10. bis 17. Mai 2024 allein in der Wiborada-Zelle in St. Gallen verbracht hat.

Die reformierte Pfarrerin aus Kreuzlingen hat ihre sieben Tage auf den Spuren der Heiligen aus dem zehnten Jahrhundert genossen. «Mein Respekt für sie ist dabei noch gewachsen. Sie hatte sich schliesslich unter weit härteren Bedingungen als ich für ein Leben als Inklusin entschieden und das zehn Jahre bis zu ihrem Tod durchgehalten. Ich verstehe aber nun auch viel besser, was sie motiviert hat, wie sie Freiheit und inneren Reichtum gewonnen hat.»

Freiheit in Abgeschlossenheit

Von der Welt abgeschlossen zu sein, bot Cathrin Legler Raum zu Reflexion und Selbsterkenntnis. «Zum ersten Mal seit Kindertagen hatte ich keine Aufgaben, die dringend zu erledigen waren. Das ist mir in den ersten zwei Tagen bewusst geworden. Ich hatte auf einmal Zeit für mich.» Ganz beschäftigungslos war die Inklusin jedoch nicht. Täglich stand sie am Fenster ihrer Zelle mittags und abends für je eine Stunde für Gespräche zur Verfügung. 15 bis 19 Begegnungen mit Ratsuchenden oder Interessierten pro Tag kamen so zustande. Ausserdem besuchten sie Schulklassen. «Es war interessant, was die Kleinen wissen wollten: Was machst du den ganzen Tag? Vermisst du deinen Mann und deine Kinder nicht?» Cathrin Legler muss lachen: «Natürlich habe ich sie vermisst, allerdings nicht den Trubel, den eine fünfköpfige Familie mit sich bringt.» Unter anderem die Haushaltarbeit blieb Wiborada-Nachfolgerin auf Zeit erspart:  Täglich brachten Freiwillige ein Mittagessen in die Zelle. «Ich habe mich dadurch gut aufgehoben gefühlt. Die Gemeinschaft hat mich getragen.»

Zeit zum Nachdenken

Allen Teilnehmenden des Wiborada-Projekts wird empfohlen, in der Zelle eine handwerkliche Tätigkeit auszuüben. Cathrin Legler begann zu stricken.

«Der Pullover ist gut gediehen», lacht sie. Um ihren Kreislauf in Schwung zu halten, lief sie in der zwölf Quadratmeter kleinen Zelle auf der Stelle und machte Yoga- oder Pilates-Übungen. Viel entscheidender als ihr körperliches war ihr seelisches Wohlbefinden. «Es ist eine absolute Reduktion – keine Nachrichten, kein Mobiltelefon, kein Schwatz mit Nachbarn oder Kollegen – trotzdem habe ich Fülle empfunden. Die Gedanken im Kopf laufen ja weiter. Da passiert viel.» Die freie Zeit nutzte die Pfarrerin für ein erneutes Bibelstudium. «Ich habe mich auf das Lukas-Evangelium konzentriert, dazu meditiert, Passagen daraus laut vorgelesen und sie abgeschrieben, um sie mir anzueignen. Ich musste lächeln, als ich erkannte, dass in dem antiken Text viele Antworten auf meine aktuellen Fragen zu finden waren.»

Am Freitag zog die 49-Jährige aus der Zelle aus, am Samstag hatte der Alltag sie wieder. «Mich mit meinen Söhnen ins Einkaufsgetümmel zu stürzen war wirklich ein Härtetest», meint sie.

Klein aber fein - das Zimmer ist zwar eng, aber doch gemütlich eingerichtet. (Bild:  wiborada.sg / ig)

Klein aber fein - das Zimmer ist zwar eng, aber doch gemütlich eingerichtet. (Bild: wiborada.sg / ig)

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