News aus dem Thurgau
Weltende

Das Ende ist nah – und auch der Anfang

von Tilmann Zuber
min
24.10.2025
Von den Buchrollen zu TikTok: Die christliche Apokalyptik, die Vorstellung der Wiederkunft Christi, fordert seit 2000 Jahren die Gläubigen heraus. Warum selbst Theologen an die Apokalypse glauben, nur anders.

«Oh my God, it’s happening! The Rapture is coming!» Wer in den letzten Wochen auf TikTok unterwegs war, stiess auf solche panischen Ausrufe, meist begleitet von dramatischer Musik. Unter dem Hashtag #RaptureTok verbreiteten Nutzer die frohe – oder eher furchterregende – Botschaft: Jesus komme zurück. Und zwar am 23. oder 24. September. Der «Kirchenbote» berichtete.

Urheber des Hypes: ein südafrikanischer Pastor namens Joshua Mhlakela, der auf YouTube die «Entrückung» ankündigte – also jenen Moment, in dem Jesus wiederkehrt, die Gerechten in den Himmel aufsteigen und der Rest … nun ja, hierbleibt. Seitdem fiebern Gläubige dem grossen Ab-flug entgegen. Manche überlegten, ob sie das Haus lieber offenlassen sollten oder wer sich um die Haustiere kümmert. Andere fragten sich: Was, wenn Jesus kommt, während man gerade auf der Toilette sitzt?

Klingt absurd – ist es auch. Aber das Bedürfnis nach einem grossen Finale, nach dem Untergang und dem Sinn in der Katastrophe, ist uralt. Und es flammt immer dann auf, wenn die Welt besonders bedrohlich wirkt: Klimawandel, Kriege, Atomangst. Die Apokalypse ist nie weit.

Das Ende als Neustart

An der Theologischen Fakultät der Universität Basel widmen sich Forscher diesem Dauerbrenner in einer Konferenz mit dem verheissungsvollen Titel «Ende oder Wende?». «Diese Narrative haben eine lange Geschichte», sagt Georg Pfleiderer, Professor für Systematische Theologie in Basel. In der Antike verbanden apokalyptische Texte oft Verschwörungstheorien und kosmischen Showdown – Gut gegen Böse, Licht gegen Finsternis. Doch, so Pfleiderer, das Ende war nie nur Katastrophe. Jüdische und christliche Texte sprechen vom Weltuntergang auch als Reinigung, göttlichem Gericht, als ein Übergang zu einer besseren Ordnung. «Kein blosses Ende mit Schrecken, sondern eine schmerzhafte Wende zum Guten», sagt er. Ein Trost: Selbst das Jüngste Gericht hatte in der Bibel etwas von Hoffnungstheologie.

Wenn Jesus das Ende der Welt vorhersagte und es ausblieb – hatte er sich geirrt? Und wenn ja: Worauf gründet dann der christliche Glaube?

War Jesus ein Endzeitprophet?

Die Frage klingt nach Theologenseminar, aber sie treibt Forscher seit über hundert Jahren um: War Jesus selbst ein Apokalyptiker? «Ja», sagt Moisés Mayordomo, Neutestamentler an der Theologischen Fakultät in Basel. Jesus habe sich in apokalyptischen Mustern seiner Zeit ausgedrückt – er predigte, dass ein kommender Äonenwechsel, das Reich Gottes, unmittelbar bevorstehe oder schon da sei. «Aber Jesus war viel mehr als ein Untergangsprediger: ein Weisheitslehrer, Poet, Geschichtenerzähler.»

Ausserdem, so Moises Mayordomo: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollten Forscher dem braven, bürgerlichen, harmlosen Jesus des 19. Jahrhunderts einen leidenschaftlichen Verkünder des Weltendes entgegensetzen – eine Art Revolutionär Gottes. Doch das habe Konsequenzen, erklärt der Neutestamentler. «Wenn Jesus das Ende der Welt vorhersagte und es ausblieb – hatte er sich geirrt? Und wenn ja: Worauf gründet dann der christliche Glaube?»

Maranatha – unser Herr komm!

Die ersten Christen waren überzeugt: Die Wiederkunft Christi stehe kurz bevor. Sie verstanden sich als Endzeitbewegung mit dem Ziel, so viele Menschen wie möglich zu missionieren und zu retten. Das Neue Testament zeugt von dieser Erwartung. Doch als die Jahrzehnte vergingen und kein himmlischer Retter erschien, musste man sich anpassen. Die Christen wurden gesellschaftsfähig. Die Gemeinden erinnerten sich an «die nicht-apokalyptischen Züge der Jesustradition», übernahmen politische Verantwortung, knüpften an die Philosophie an und entwickelten ihre eigene Ethik und Strukturen – kurz: Kirche.

Nach der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert, als das Christentum Staatsreligion wurde, stellte sich die unbequeme Frage: Ist das nun das Reich Gottes, das Christus verheissen hatte? Der Bonmot-Klassiker des katholischen Theologen Alfred Loisy von 1902 bringe dies auf dem Punkt, erklärt Mayordomo: «Jesus kündete das Reich Gottes an und gekommen ist die Kirche.»

Die Apokalyptik ist unruhig, unbequem – als ständige Erinnerung daran, dass die Versöhnung, die Christus gewollt und gebracht hat, in der Welt noch keineswegs überall angekommen ist.

Apokalyptik als Gegenbewegung

In den christlich-apokalyptischen Strömungen von heute sieht Pfleiderer eine Art religiöse Gegenbewegung. «Sie erinnert daran, dass es der Christenheit ums Ganze geht – um die Zukunft der Welt.» Statt sich in private, individuelle Frömmigkeit zurückzuziehen, bezieht sie die ganze Welt in ihr religiöses Denken ein. Oft fordert sie politisches, gesellschaftliches Engagement.

Denn die offizielle Kirche hat sich, so Pfleiderer, oft zu bequem eingerichtet im Glauben, dass das Heil mit dem Kreuz und der Auferstehung Jesu schon da sei. Sie neige dazu, das Heil zu verwalten wie eine Behörde die Akten und arrangiere sich mit dem Staat. Die Apokalyptik dagegen ist unruhig, unbequem – als ständige Erinnerung daran, dass die Versöhnung, die Christus gewollt und gebracht hat, in der Welt noch keineswegs überall angekommen ist. Apokalyptische Tradition lebe heute in engagierten Gruppierungen, in der Friedens- oder Klimabewegung oder auch in Freikirchen und früher im Pietismus.

In den USA hat sich die Apokalyptik längst mit der Gesellschaft und Politik vermengt. Evangelikale sehen Israel als Bühne des göttlichen Plans. Die Wiederkunft Christi erwarten sie auf dem Ölberg in Jerusalem, wo der dritte Tempel errichtet werden sollte. Die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem in Donald Trumps erster Amtszeit war für viele ein heilsgeschichtliches Signal. Bei der Einweihung beteten evangelikale Prediger – und mancher sieht im Präsidenten fast einen religiösen Verbündeten. «In diesen Kreisen sorgt Trump fast für messianische Euphorie», sagt Mayordomo.

Theologen und das zweite Kommen

Glauben Theologinnen und Theologen selbst an die Verheissung der Wiederkunft Christi? Pfleiderer zögert nicht: «Ja.» Er vertraue darauf, dass Gott die Welt nicht im Stich lässt und Ungerechtigkeit nicht hinnimmt. Allerdings glaubt Pfleiderer nicht an Spezialeffekte und einen Gewaltakt: Kein Jesus auf einer Wolke, kein Donnerwetter vom Himmel. «Wozu braucht es ein solches Spektakel?», fragt er. Für ihn zeigt sich die Wiederkunft in der Verheissung, dass Gott seinen Geist über die Menschen ausgiesst und in allen wirkt, die guten Willens sind – leise, nicht spektakulär.

Am 23. und 24. September geschah – nichts. Kein Trompetensignal, kein Christus, keine Entrückung. Pastor Mhlakela hatte sich geirrt. Was aber, wenn Gläubige ihr ganzes Leben auf so ein Ereignis ausrichten? «Dann kann das gefährlich werden», warnt Georg Otto Schmid, Sektenexperte von Relinfo. In extremen Fällen führe es zum Suizid. Wer den Weltuntergang fest einplane, stehe nachher ohne Welt da. Der Glaube an das Ende spreche Menschen an, die in dieser Welt nichts mehr erwarten – Arbeitslose, Verlassene, Kranke oder Menschen, die sozial isoliert sind. «Prediger, die konkrete Daten nennen, handeln verantwortungslos», sagt Schmid.

 

«Ende oder Wende: Apokalyptische Diskurse in Antike und Gegenwart», 6. bis 8. November, Öffentliche Konferenz des Karl-Barth-Zentrums für reformierte Theologie, Universität Basel, Alte Universität, Rheinsprung 1, Hörsaal 101. Teilnahme kostenlos, auch online möglich Links werden nach Anmeldung verschickt. Anmeldung: barthzentrum-theol@unibas.ch

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