News aus dem Thurgau

Das schleichende Wunder von Gossau

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22.04.2021
Beinahe unbemerkt hat sich in Gossau in den vergangenen Jahrzehnten ein schleichendes Wunder vollzogen: Die 90-jährige Rösli Krucker blickt zurück auf eine Annäherung zwischen Katholiken und Reformierten, die zur Zeit ihrer Kindheit noch undenkbar war.

«AIs Mädchen trug ich in den 1940er-Jahren in Gossau ‹Ringier›-Heftli aus. Vom Oberdorf bis zum Niederdorf und vom Lindenhof bis zum Rosenhügel. Auf meinen Wegen als ‹Heftlimeitli› nahm ich vieles in mir auf. Wir hatten damals vierzehn Schuhmacher im Dorf. Heute noch weiss ich alle beim Namen. Wälchli war der ‹Reformierte›.

Dorf getrennt nach Konfession

Als Katholikin durfte ich die katholische Schule besuchen, die meinem Elternhaus näher lag. Doch die Protestanten mussten alle ins Schulhaus Haldenbüel, sogar die Kindergärtler von ganz Gossau. Die Krankenschwestern pflegten nur die Patienten ihrer Konfession. Ebenso die Hebammen: Fräulein Löhrer brachte die katholischen Kinder zur Welt, Frau Huber alle anderen.

 

Hofmann brachte «reformierte» Milch, Wüschner brachte «katholische» Milch.

 

Die Spaltung zog sich auch durch das Gewerbe. Besonders fielen mir die Milchmänner auf. Mit ihren Karren und alten Autos fuhren sie durchs ganze Dorf und brachten ‹reformierte› Milch. Das waren Hofmann und Streule. Die anderen, Wüschner und Krucker zum Beispiel, brachten die ‹katholische› Milch. Ob beim Bäcker, beim Metzger oder in der Beiz: Das Dorf war getrennt nach Konfession.

Auch wir Kinder plagten uns gegenseitig, denn man machte uns Katholiken glauben, die Protestanten kämen sowieso alle in die Hölle. Gegenseitig provozierten wir uns mit den hohen Feiertagen: Die einen mit dem Karfreitag und der Konfirmation, die anderen mit ihrer riesigen Fronleichnamsprozession.

Unterschiede auf dem Friedhof

Nur auf dem Friedhof lagen dann alle nebeneinander. Doch auch dort erkannte man Unterschiede. Einige wenige hatten kein Weihwassergeschirr und der Grabstein war gekennzeichnet von Bildhauer Schoch. Doch der grössere Teil trug die Unterschrift von Bildhauer Ledergerber.

Heute, 80 Jahre später, ist Gossau eine Stadt geworden. Ich sehe Kinder grüppchenweise ins nächste Schulhaus trudeln, Katholiken und Reformierte. Die Spitex besucht alle, die es nötig haben. Die Konfessionen sind sich näher gekommen. Wir feiern ökumenische Gottesdienste.

Glocken läuten für alle

Besonders eindrücklich war für mich eine gemeinsame 1.-August-Feier. Die Andreaskirche war voll von Menschen beider Glaubensrichtungen. Wir beteten zusammen das Vaterunser und als Krönung sangen wir ‹Grosser Gott, wir loben dich›. Als in der reformierten Kirche Haldenbüel die Glocken überholt werden mussten, läuteten auch zur Abdankung der Reformierten die katholischen Glocken der Andreaskirche. Dieses schleichende Wunder in Gossau habe ich erlebt!»

Notiert von Andrea Weinhold, Pfarrerin, St. Gallen | Foto: zVg – Kirchenbote SG, Mai 2021

 

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