News aus dem Thurgau

Die Glocke im Gefängnis

von Lars Heynen
min
23.09.2023
Unter normalen Umständen hätte die kleine Glocke niemals in der kantonalen Strafanstalt Regensdorf auftauchen sollen. Bis heute fristet die aus dem Jahr 1636 stammende Glocke ihr Dasein hinter Mauern. Ein Glockenkrimi.

«Das Glöcklein schlug zum Streite»: Neben verschiedenen anderen Meldungen aus Zürich und Region berichtete die Neue Zürcher Zeitung am 20. August 1997 über die «Interkantonale Fehde um ein historisches Objekt», bei dessen Beschaffung «nicht alles so ganz mit rechten Dingen zugegangen» sei.

Vorgeschichte

Wir schreiben das Jahr 1900. Ein Riss in der mittleren der drei Glocken in der Kirche Felben führte zu Überlegungen. Die Verantwortlichen suchten Rat bei der Glockengiesserei Rüetschi in Aarau, um zu erfahren, welche Vorgehensweise in dieser Situation die beste sei. Die Empfehlung war klar: Die kleinste Glocke aus vorreformatorischer Zeit sei «von keiner langen Lebensdauer» mehr. Sie solle zusammen mit der mittleren, gesprungenen Glocke eingeschmolzen und durch neue Glocken ersetzt werden.

Im Vertrauen auf die Expertise der Fachleute bestellte die Kirchgemeinde Felben daher zwei neue Glocken. Auf den Gesamtpreis für zwei Ersatzglocken in Höhe von 1677 Franken wurde das Material der beiden eingeschmolzenen Glocken mit einem Betrag von 420 Franken in Abschlag gebracht.

Am 4. Dezember 1901 fand der feierliche Aufzug der zwei neuen Glocken in Felben statt. Ebenfalls im Jahr 1901 wurde im Kanton Zürich der Bau der Strafanstalt Regensdorf abgeschlossen, der 1899 begonnen hatte. Finanziert wurde der Neubau grösstenteils durch den Verkauf des Areals, das dem ehemaligen Kloster Oetenbach zugehörte. Seit 1637 wurden dort im ehemaligen Zuchthaus Freiheitsstrafen verbüsst.

Im Torgebäude der neuen Strafanstalt, getragen von einem feingliedrigen, offenen Dachreiter, sollte nach dem Wunsch und Plan des Architekten eine Glocke angebracht werden. Diese fand sich alsbald in Gestalt der Glocke, die im ehemaligen Zuchthaus geläutet hatte.

Ein alter Glockenstreit

Jene Glocke aus dem Jahr 1789, dem ersten Jahr der französischen Revolution, wurde vom Glockengiesser Johannes Füssli gegossen. Ursprünglich war sie im Dachturm des 1867 abgetragenen Rennwegtores in Zürich angebracht. Wenige Monate nach dem Aufzug in den Turm der Strafanstalt Regensdorf wurde sie jedoch von der Stadt Zürich zurückgefordert.

Der Kanton müsse die Glocke zurückgeben, weil sie nicht zu den an ihn vertraglich abgetretenen Objekten gehöre, war die Begründung. Der Streit konnte dadurch beendet werden, dass der Klangkörper an die Stadt Zürich zurückgegeben wurde, die ihrerseits versprach, ein gleichwertiges, neues Glöckchen «von nämlichem Klang zu liefern».

Am 22. Juli 1902 wurde der Glockentausch «fliegend» vollzogen, um das tägliche Läuten nicht unterbrechen zu müssen. Die Anstaltsverantwortlichen mussten an diesem Tag allerdings feststellen, dass keineswegs eine neue Glocke beschafft wurde, sondern eine, so ist überliefert, «die nach unserer Ansicht der frühern nicht gleichwertig ist».

Spurensuche beginnt

«Sehr geehrter Herr Pfarrer Stähelin, mit Verwunderung habe ich festgestellt, dass die Glocke im Dachreiter der Strafanstalt Regensdorf aus Ihrer Kirche stammt. Da die Strafanstalt demnächst wegen dem fertig gewordenen Neubau völlig abgerissen wird, habe ich mich den wenigen Kunstgegenständen darin gewidmet und stiess auf diesem Wege auf die Glocke.» (Regensdorf, 31.8.94 von Dr. Lucas Wüthrich)

Mit einem Brief mehr als 90 Jahre nach der Installation der Glocke in der Strafanstalt, die bis etwa ins Jahr 1977 dreimal täglich geläutet hatte, begann die Spurensuche. Der Kunsthistoriker Dr. Lucas Wüthrich war fast 30 Jahre am Landesmuseum tätig und wandte sich seinerzeit mit einigen Angaben und Fragen an den Pfarrer der Kirchgemeinde Felben-Wellhausen.

ANNO DOMINI 1636

«ANNO DOMINI 1636 JAR» steht auf der Glocke. Liegt der Bestellauftrag in Felben noch vor? Gibt es Angaben zu den Kirchenpflegern «Conrad Kauff» von Wellhausen und «Ulrich Debrunner» von Felben, deren Namen und Wohnort auf der Glocke zu lesen sind? Ausserdem: Wurde die Glocke direkt nach Regensdorf verkauft, oder ging sie an den Kunsthandel?

Des Rätsels Lösung gefunden

Mit Hilfe der Antwort, die Dr. Wüthrich aus Felben erhielt, konnte er herausfinden, was geschehen war. Die Glockengiesserei Rüetschi hatte damals die mittlere, gesprungene Glocke aus dem Felbener Kirchturm nicht, wie versprochen, eingeschmolzen. Von einem Riss konnte der Sachverständige nichts mehr sehen. Die Glocke wurde offenbar fachmännisch instandgesetzt und danach an die Stadt Zürich zuhanden der Strafanstalt weiterverkauft. 

Alsbald versuchte die Kirchenvorsteherschaft Felben-Wellhausen die aufgetauchte Glocke wieder nach Felben rückzuführen und erkundigte sich nach den Bedingungen dafür. Von Seiten der Strafanstalt gab es kurzerhand eine Absage. Man beabsichtige, die Glocke allenfalls als Pausenglocke in der neuen Anstalt Pöschwies zu verwenden.

Die thurgauische Denkmalpflege riet zu politischen Verhandlungen, so dass der damals verantwortliche Ständerat hinzugezogen wurde. Ebenfalls aktiv wurde der Evangelische Kirchenrat, der, wie zuvor die anderen Instanzen, hervorhob, dass die Bedeutung dieser Glocke als kultureller und historischer Zeuge für die Kirchgemeinde Felben-Wellhausen wohl ungleich höher zu werten sei als die vorgesehene Verwendung der Glocke in der neuen Strafanstalt.

 

Das «gestohlene Glöcklein von Felben»: Unschuldig hinter Gittern in der Strafanstalt Regensdorf. (Bild: Kantonale Strafanstalt Pöschwies (1999))

Trotz aller Bemühungen wurde die Glocke in die neue Strafanstalt Pöschwies überführt, wo sie in einem tristen Stahlgerüst aufgehängt wurde. Es gilt, was 1997 die NZZ schrieb: «Juristisch gesehen handle es sich, so hält die Zürcher Seite fest, um einen widerrechtlich abhanden gekommenen Gegenstand; doch habe sich dieser Vorfall schon vor fast hundert Jahren zugetragen. Man könne klar von Verjährung sprechen». So kann es zugehen, wenn juristische Feststellungen wichtiger sind als die Bedeutung von Kulturgütern und als ein sorgfältiger und wertschätzender Umgang mit ihnen.

 

Auslegung «ANNO DOMINI 1636»

Auf manchen alten Objekten findet sich die Inschrift «Anno Domini», übersetzt: «Im Jahre des Herrn». So auch auf der alten Felbener Glocke. Jedes Jahr ist ein Jahr des Herrn, denn er ist Herr der Zeit, die die Glocken anzeigen. Damit wird deutlich: Gott hat unsere Welt und uns Menschen nicht sich selbst überlassen. Er hält seiner Erde die Treue. Die Geschichte der Menschheit ist damit nicht mehr einfach eine stete Abfolge von Jahren mit Höhepunkten und Schicksalsschlägen. Sie ist eingerahmt und ausgerichtet auf das Kommen Jesu Christi und auf seine Wiederkunft.

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