News aus dem Thurgau
Klimaerwärmung

Die Moral erobert die Politik

von Karin Müller
min
28.02.2023
Die Klimadebatte sei moralisch und religiös aufgeladen. Dies führe zu Unversöhnlichkeit, sagt der Publizist Felix E. Müller. Statt vom Weltuntergang zu reden, müsse die Politik den pragma­tischen Kompromiss suchen.

Sie nennen sich «Letzte Generation» oder «Erde brennt». Weil sie das Ende der Welt befürchten, kleben sie sich auf Strassen fest und besetzen Schulen – durch zivilen Ungehorsam und indem sie von der Regierung fordern, den Klimanotstand einzuführen, wollen sie eine Klimapolitik erzwingen, die die Erderwärmung verhindert und die Erde rettet. Am Beispiel der Klimaaktivisten fragt Felix E. Müller, Journalist, Publizist und langjähriger Chefredaktor der «NZZ am Sonntag», wohin die Rede vom Weltuntergang führt und was dies mit Religion zu tun hat. Anfang Februar war Müller im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Tischreden zu Fragen des Zeitgeschehens» zu Gast in der Kirchgemeinde Waldenburg mit dem Vortrag «Überall ist Weltuntergang».

Endzeitvorstellungen seien heute Teil eines politischen Diskurses geworden, sagt Felix E. Müller. «Im Kern ist die Klimadebatte erfüllt von Vorstellungen vom Weltuntergang.» Dass der Klimakollaps viele junge Leute tatsächlich mit Angst erfüllt, bezweifelt Müller nicht. Und Endzeitstimmung sei kein Phänomen, das nur in links-grünen Kreisen zu beobachten sei. Auch Donald Trump habe von der Zukunft ein düsteres Bild gemalt. Für Rechtspopulisten gehörten Untergangsszenarien zum Geschäftsmodell.

 

Moral und Politik

Damit verbunden sei eine gesellschaft­liche und politische Polarisierung, so Müller. «Es geht nicht mehr um Richtig oder Falsch, sondern um Gut oder Böse. Die heutige Politik ist moralisch aufgeladen. Dies führt zur Unversöhnlichkeit, denn man kann mit dem Bösen keine Kompromisse eingehen.» Darum wollten Klimaaktivisten «böses Verhalten» wie etwa Fliegen verbieten und forderten von den Regierungen, das gute Handeln per Notrecht zu diktieren. «Sie glauben, dass man nur so bewirken kann, dass die Leute ihr Verhalten ändern», sagt der Publizist.


Er sieht in solchen moralisch geprägten Debatten einen neuen Ausdruck von Religiosität. «Die Vorstellung des Weltuntergangs, die Apokalypse, ist eminent christlich und steht nun in einer säkularisierten Form wieder im Zentrum unserer Diskussion. Wir leben in säkularen Zeiten, aber das Religiöse verschwindet nicht einfach. Religiöse Bedürfnisse erscheinen in neuer Form.» Diese Entwicklung findet er gefährlich. «Dies führt zu einer Überhöhung und Überladung der Politik, die so die Fähigkeit verliert, konkrete Probleme pragmatisch zu lösen.»


Anders als während des Kalten Krieges, als die atomare Aufrüstung die Welt bedrohte, habe die Rede vom Weltuntergang heute eine andere Qualität, so Müller. Er werde als Folge unseres falschen Lebens wahrgenommen. «Damit versündigen wir uns, etwa gegen die Umwelt, und führen so die Apokalypse herbei.»

 

Es ist nicht ausweglos

Trotzdem bleibt Müller optimistisch. Es sei in der Schweiz schwieriger geworden, Kompromisse zu finden. Doch die direkte Demokratie, die Entscheide herbeiführt, könne dies etwas ausgleichen. «Es ist nicht ausweglos, aber man muss versuchen, die Politik weniger zu einem Ort zu machen, wo man quasireligiöse Gefühle und Empfindungen auslebt, sondern wieder stärker pragmatische, wenn auch manchmal unvollkommene Lösungen für Sachprobleme zu finden.»

Und wie bekommen wir die Klimaerwärmung in den Griff? «Ich glaube an die Veränderbarkeit des Menschen und an die Möglichkeiten der Technologie. Ich glaube, wir können viele Dinge durch den technologischen Fortschritt lösen, gerade beim Klimaproblem», meint Felix E. Müller. Für die Klimaaktivisten sieht er den Weg, den die 68er-Bewegung gegangen ist. «Diese strebte ebenfalls eine gesellschaftliche und politische Veränderung an und machte eine revolutionäre Phase durch. Sie trat jedoch recht bald den Marsch durch die Institutionen an, brachte ihre Forderungen in den politischen Prozess ein und hat dadurch viel verändert. In unserem politischen System bleibt der Klimajugend nichts anderes übrig. In einer Demokratie muss man am Schluss eine Mehrheit überzeugen. Ich sehe das als den richtigen Weg.»

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