News aus dem Thurgau
Bibelpodcast «Unter Pfarrerstöchtern»

«Diese Mischung aus Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe ist einzigartig»

von Nicole Noelle, Tilmann Zuber
min
10.11.2025
Die Theologin und Journalistin Johanna Haberer erzählt mit ihrer Schwester Sabine Rückert im Bibelpodcast «Unter Pfarrerstöchtern» Geschichten aus dem Buch der Bücher. Er gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Podcasts. Warum?

Frau Haberer, wenn man Ihren Namen googelt, stösst man als Erstes auf die Frage: «Ist Frau Haberer fromm?» Sind Sie fromm?

Ja, ich denke schon. Allerdings bin ich vielleicht auf eine andere Weise fromm, als man es von einer Pfarrerin erwartet. Meine Frömmigkeit ist im Laufe der Jahre der Dogmatik entwachsen und bewegt sich eher auf einer mystischen Frömmigkeitsebene.

Sie und Ihre Schwester stammen aus einer Pfarrfamilie. Wie hat Sie das beeinflusst?

Wir sind mit biblischen Geschichten und Texten aufgewachsen, was uns intellektuell stark geprägt hat. Unsere Familie war eine Familie der Sprache, und die Bibel, dieses sprachmächtige Buch, hat uns begleitet. Jeden Tag lasen wir ein Stück aus Jörg Zinks Übersetzung «Womit wir leben können» – das ganze Jahr hindurch. Die grossen Bibeltexte führten uns durch die Jahreszeiten. Das formt nicht nur unsere Sprache, sondern auch unsere Haltung zur Welt. Es bewahrte uns davor, in Sinnlosigkeit oder Depression zu versinken. Wir lernten in unserer Familie einen Frömmigkeitsstil kennen, der voller Lebensfreude und Lebensliebe war – nicht spassbefreit oder asketisch.

In Ihrem Podcast geht es um die Bibel. Welche Rolle spielt diese in Ihrem Leben?

Ich habe Theologie studiert, habe dann aber in den Journalismus gewechselt. Trotzdem habe ich mein Leben lang gepredigt. Die Predigt ist für mich eine wesentliche Ausdrucksform. Über 36 Jahre habe ich im Bayerischen Rundfunk die Morgenfeier gestaltet. Dabei ging es nicht darum, biblische Texte für eine Gemeinde auszulegen, die ohnehin ähnliche Überzeugungen teilt. Im Rundfunk spricht man zu einer Million Zuhörern – einer vielstimmigen Welt. Diese Erfahrung, Texte so zu übersetzen, dass sie offen und zugänglich bleiben, hat mich geprägt. Die Predigt ist eine grossartige Sprachgattung, wenn man sie lebendig hält und nicht zu einem langweiligen Monolog über Gott verengt. Man darf die Menschen nicht langweilen.

Kurz für Dummies erklärt: Was steht eigentlich in der Bibel?

Die Bibel sagt: Du kannst immer wieder neu anfangen, dein Leben ist nie verloren. Gott führt in die Freiheit, nicht ins innere Gefängnis. Die grösste Sünde ist es, zu glauben, dass dir nicht vergeben werden kann. Und am Ende steht eine Umarmung.

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Podcast?

Anfangs gab es Kritik aus fundamentalistischen Kreisen. Manche konnten es nicht ertragen, dass wir Witze machen. Für sie ist die Bibel ein todernstes Buch. Dabei enthält sie selbst humorvolle Geschichten, Spottlieder und Ironie. Einige nahmen uns übel, dass wir lachen und die Schriften nicht bierernst behandeln. Gewundert hat mich, dass von Seiten der Theologieprofessoren keine Kritik kam. Im Gegenteil: Einige nutzen den Podcast sogar in ihren Vorlesungen. Besonders berührend waren persönliche Rückmeldungen. Ein Mann schrieb uns aus einer psychiatrischen Einrichtung, wie ihm unsere Sendung über Moses im Körbchen durch den Entzug half. Ein anderer, der mit zwölf Jahren erkannte, dass er homosexuell ist, fand durch uns den Mut, seinen Glauben mit seiner Identität zu verbinden. Solche Reaktionen zeigen, dass die Bibel Menschen bewegen und befreien kann.

 

Johanna Haberer ist eine evangelische Theologin und Journalistin. Von 2001 bis 2022 war sie Professorin für Christliche Publizistik am Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie ist Autorin vielfältiger Beiträge, Vorträge und Rundfunkpredigten bei verschiedenen öffentlich-rechtlichen Sendern. Bekannt auch durch den Podcast «Unter Pfarrerstöchtern», den sie mit ihrer Schwester für die «Zeit» macht.

Das Interview wurde anlässlich des Podcast-Festivals von Reflab in Zürich aufgezeichnet. Die Folge «Ist die Bibel bloss ein altes Buch?» kann man hier nachören.

 

Zu einem anderen Thema: Eines Ihrer Bücher trägt den Titel «Die Seele. Versuch einer Reanimation». Früher fürchteten die Leute, sie könnten ihre Seele an den Teufel verlieren. Heute im Zeitalter der Aufklärung und der Naturwissenschaften ist die Seele verschwunden. Warum wollen Sie die Seele wieder zurückholen?

Weil ich das Göttliche im Menschen nicht verlieren will. In den Wissenschaften spricht man kaum noch von der Seele. Stattdessen misst man Gehirnströme und untersucht kognitive Prozesse. Doch das, was die Würde des Menschen ausmacht – dieses Ungefähre und Ambivalente, dieser innere Raum, diese Verbundenheit mit anderen und mit Gott – lässt sich nicht empirisch messen. Ich verstehe die Seele nicht im platonischen Sinn als etwas, das unabhängig vom Körper existiert. Für mich ist sie das Lebensprinzip, das uns mit Gott und den Menschen verbindet. Eine Seele ohne Körper gibt es nicht. Wenn wir sterben, wird vielleicht etwas im Gedächtnis Gottes bleiben.

Die Seele ist für Sie eine Frage der Menschenwürde.

Ja. Die Seele beschreibt das Besondere und Unverwechselbare des Menschen und seine Bezüge zu den anderen, zu Gott und zur Natur. Ohne die Rede von der Seele verlieren wir all die grossen Worte, die in der Bibel schlummern, auch Beziehungsworte wie Barmherzigkeit und Dankbarkeit. Worte, die unsere Sprache und unser Denken bereichern und langsam verschwinden.

Eine Gesellschaft ohne Seele würde verarmen?

Ja. In der Alltagssprache ist die Seele noch präsent – etwa in Begriffen wie «Seelenverwandte» oder «seine Seele verkaufen». Doch in den Wissenschaften traut man sich kaum, darüber zu sprechen.

Wie wichtig ist es heute, die Menschenrechte zu betonen?

Menschenrechte werden weltweit gebrochen. Die Bibel erzählt von den Menschenrechten und der Würde des Einzelnen, oft in Form von Geschichten. Diese sind grösser und offener als Gesetzestexte. Sie laden uns ein, in ihnen zu wohnen und sie in Handlungen zu übersetzen. Etwa die Geschichte von König David, Bathseba und Natan, welche die bis heute aktuelle Frage aufgreift, ob Herrscher über dem Gesetz stehen. Viele biblische Texte machen uns widerständig gegen Ungerechtigkeit. Die Bibel ist ein grosses Buch der Gerechtigkeit. Das Judentum hat der Welt die Idee von Gottes Gerechtigkeit geschenkt, das Christentum fügte die Liebe und Feindesliebe hinzu. Diese Mischung aus Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe ist einzigartig.

Auch für viele Trump-Anhänger hat die Bibel eine grosse Bedeutung. Was verstehen diese anders?

Sie lesen die Bibel einstimmig, obwohl sie ein vielstimmiges Buch ist. Zurzeit denke ich oftmals an Situationen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zurück. Im Dritten Reich trennten sich die Bekennenden Christen von den Deutschen Christen. Ein Pfarrer, der gegen Hitler war, wurde entlassen. Beim Abschiedsgottesdienst kam er herein und trug die Bibel aus der Kirche hinaus. Dieses Bild halte ich dem amerikanischen Fundamentalismus entgegen. Was Trump mit der Bibel macht, ist eine Parodie auf das, was das Buch verdient hat.

Was würde Ihr inzwischen verstorbener Vater zu Ihrem Podcast sagen?

Das hinge von seiner Laune ab. Vielleicht würde er uns manchmal Blasphemie vorwerfen. Aber nach hundert Folgen wäre er wohl abgehärtet.

Gibt es einen Bibelvers, der in Krisenzeiten Hoffnung verleiht?

Ich liebe die Geschichte von Elia. Nach einer Gewaltorgie, in der er 450 Baalspriester tötet, fällt der Prophet in eine tiefe Depression. Er liegt am Boden und will sterben. Doch ein Engel kommt, gibt ihm zu essen. Elia schläft dann ein. Abermals kommt ein Engel, weckt ihn und sagt: «Steh auf und geh, du hast einen langen Weg vor dir.» Dieser Satz ist für mich ein Gottessatz in die Zukunft. Nach all der Gewalt und Verzweiflung sagt er: «Steh auf und geh weiter.»

 

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