«Eine höhere Macht ist hier stärker spürbar»
Das Pfarrhaus steht in Betschwanden, doch um alle reformierten Kirchen in ihrer Gemeinde von Luchsingen bis Braunwald zu erreichen, sind weite Strecken zurückzulegen. Doch das findet Manja Pietzcker, Pfarrerin der Kirchgemeinde Grosstal in Glarus Süd, durchaus positiv: Es entschleunige auch mental. Nach acht Jahren im Pfarramt in Dresden suchte sie bewusst den Wechsel aufs Land und auch in eine andere Kultur.
Ein Wagnis, mit dem sie glücklich ist, denn die Nähe zu den Menschen im Dorf, in der Gemeinde, sei genau das, was sie sich gewünscht habe. Obwohl ihr in den Jahren davor die Anonymität der Stadt auch gepasst habe. «Damals, mit jüngeren Kindern und einer 50-Prozent-Pfarrstelle, war es mehr ein Job, neben dem man viele andere soziale Kontakte hatte. Jetzt bin ich als Pfarrerin hier in einer Dauerrolle.» Von der Kinder- bis zur Seniorenarbeit, von Gottesdiensten bis zu Taufen und Beerdigungen, der Seelsorge und Geburtstagsbesuchen: Das Spektrum sei umfassend und daher spannend. Sie habe viele Freiheiten, ihre Ideen umzusetzen. Aber auch eine grosse, oft alleinige Verantwortung. «Was, wenn mir plötzlich etwas passiert, und gleich darauf wäre eine Abdankung?», fragt sie sich. In Dresden waren sie ein Pfarrteam mit fünf, sechs Personen, dazu weitere Teams Mitarbeitender. Im Grosstal gibt es nur wenig Personal: der ehrenamtliche Kirchenrat und kleine Pensen für Sekretariat, Kirchenmusik und Sigristen.
Beliebte Outdoor-Gottesdienste
Das Einleben ging erstaunlich rasch: «Am ersten Tag, dem 1. August 2022, waren wir schon mit der ganzen Familie an einem Bauernhof-Brunch in Linthal.» Von ihrer Pfarrhausküche geht der Blick zum Glärnisch, vom Balkon zum Tödi. «So wunderbar, ich kann mich bis heute nicht daran sattsehen, und glaube, das bleibt so», sagt die Pfarrerin. Die starke Verbundenheit mit der Natur und dem Alltag der Menschen im Glarner Grosstal gibt ihr viel. Sie mag die schroffen Berge, die Land- und Alpwirtschaft. Manja Pietzcker trägt eine Sennenbluse, sie will noch heute die Wiese vor dem Pfarrhaus mit der Sense mähen. Etwas Gemüse hat sie auch im Pfarrhausgarten angebaut.
Schon in ihrem ersten Herbst lief sie beim Alpabzug mit durchs Tal, im zweiten Jahr wurde sie offiziell eingeladen, den ganzen Abtrieb der 100-köpfigen Rinder- und Geissenherde von Braunwald durch den steilen Pfad hinab zu begleiten. «Da ich als Hirtenstock nur einen Besenstil hatte, schnitzte mir später ein Konfirmand einen richtigen Stock, mit meinem Namen!» Den brauche man wirklich, um die Tiere zu dirigieren und sich selbst heil hinunter zu bringen, das sei harte Arbeit und keineswegs Folklore.
Manja Pietzcker liebt aussergewöhnliche Gottesdienste – ob im Zirkus Mugg wie beim kantonalen Familiengottesdienst im Mai, am Oberblegisee wie im Juli mit Alphörnern, oder beim Taufen hoch auf der Alp. Ein Highlight war die Premiere ihres Ski-Gottesdienstes in Braunwald. Dort fuhr sie ab dem Seblengrat im Talar ins Dorf; ein Fahnenträger, ein Büchelspieler und eine etwa zwanzigköpfige Schar Besucherinnen und Besucher wirkten mit, indem sie Stichworte zur Predigt lieferten. Ihre Predigten sind nahe am täglichen Leben. Die Präsenz der mächtigen Natur, von der man abhängig sei, zeige deren Unverfügbarkeit. Man sei hier bodenständig, auch im Glauben. «Eine höhere Macht ist wohl hier stärker spürbar», stellt die Pfarrerin fest. Das mache demütig. Intellektuelle Predigten, mit denen sich die Stadtpfarrer gerne überboten, brauche es hier nicht. «Wenn es in der biblischen Botschaft um Schafe geht, dann geht es bei uns wirklich um Schafe. Da musst du auch den Wolf erwähnen, denn der ist hier Realität. Mensch und Tier teilen sich die Lebensgrundlage.»
Wechselseitiges Lernen
Entgegen manchem Vorurteil erlebt Manja Pietzcker die Menschen hier als offen für Neues, nicht engstirnig. Viel werde ihr als Pfarrerin anvertraut. Im Religiösen spürt sie aber manchmal eine gewisse Einsamkeit. Wenn sie der Kirche so viel gibt, wächst auch ihr Hunger nach geistlicher Nahrung. Zwar gibt es einen Austausch der Pfarrpersonen im Kanton und sie nimmt an Fortbildungen teil, doch zum Auftanken mit Gott tut ihr von Zeit zu Zeit eine Woche im Kloster gut – und auch Not. Worauf das Ehepaar Pietzcker auch achten muss, sei die Rolle des Partners der Pfarrperson. Da bestehe die Gefahr, als «Anhängsel» kein eigenes Sozialleben aufzubauen. Hat sie als neu zugezogene Landpfarrerin auch kulturelle Herausforderungen erlebt? Manja Pietzcker sagt, sie sei von Anfang an sehr freundlich aufgenommen worden, im ersten Jahr gab es eine Art Welpenschutz. Dann kamen schon noch ein paar Probleme, wo sie für sich einen Weg finden musste. Etwa zum Umgang mit den ungeschriebenen Regeln der Kommunikation in ihrer neuen Heimat: wer wann wo was wem sage, oder wie man Dinge eher nicht angehe. Aber das Lernen sei wechselseitig zwischen ihr und der Gemeinde: «Ich bin ein direkter Mensch. Wenn ich in der Kirche sage, dass mir ehrliche Gespräche wichtig sind, wird das geschätzt.» Die Glarner seien ihr von der Art her nahe, unkompliziert. Am Schluss sagt Manja Pietzcker: «Was mich erstaunt: In Dresden kannte ich etwa 50 der dreieinhalbtausend Gemeindeglieder. Nun, nach zwei Jahren im Grosstal, kenne ich schon etwa 200 der 1000 Menschen unserer Gemeinde.» Und da sie gerne selber Geburtstagskarten austrage, werden es wohl auch noch mehr werden.
Fokus Stadt und Land
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Seit Jahren bewirtschaftet die Politik den Stadt-Land-Graben. Der Fokus Stadt und Land geht der Frage nach, ob es diesen Graben auch in der reformierten Kirche gibt. Ticken die Gläubigen im Münstertal anders als jene in Schwamendingen? Steht die Kirche auf dem Land noch im Dorf? Und wie funktioniert Kirche in der Stadt?
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