News aus dem Thurgau
Gastbeitrag

Gemeinsam beten – zu intim?

von Anna Näf
min
05.12.2025
Beten ist für viele fast so intim wie das, was im Schlafzimmer passiert, schreibt Pfarrerin Anna Näf in ihrem Gastbeitrag. Warum das Gebet einen geschützten Rahmen braucht – und wieso selbst sie als Pfarrerin manchmal Gebetshemmungen hat.

Manche Berufe führen dazu, dass man Hemmungen verliert: Physiotherapeuten massieren einen fremden, nackten Körper genauso hemmungslos, wie andere den Sonntagsbraten mit Marinade einreiben. Metzgerinnen trennen ein Huhn von seinem Kopf, so wie andere Eigelb vom Eiweiss trennen. Und Pfarrpersonen setzen mitten in einem Alltagsgespräch zu einem Gebet an, so wie andere über das Wetter reden.

Ich gehöre auch zu diesen Pfarrerinnen. Und ich vergesse manchmal, dass Beten für die meisten Menschen fast so intim ist wie das, was im Schlafzimmer passiert.

Kürzlich fragte ich eine Gruppe von Jugendlichen, ob sie mit mir beten wollen. Sie schauten mich an, als hätte ich sie dazu aufgefordert, aus ihrem Tagebuch vorzulesen.

Beten ist, als würde man mit seiner Therapeutin reden – das tut man meist hinter verschlossenen Türen. Deshalb benötigt Gebet einen geschützten Rahmen. Aber das bedeutet nicht, dass man es nur alleine tun sollte. Denn erst in Gemeinschaft entfaltet dieses Glaubensritual seine ganze Kraft: Ich bitte um einen Lichtschimmer – und sehe diesen bereits im mitfühlenden Schweigen der anderen. Wir gratulieren Gott mit klirrenden Gläsern oder schlagen gemeinsam Felsbrocken aus Gottes scheinbarer Gleich­gültigkeit heraus. Das verbindet. Dafür lohnt es sich, ein paar Hemmungen abzubauen.

Aber wie? Es ist paradox: Je mehr Hemmungen man hat, desto mehr überlässt man das Beten den Profis. Doch um Hemmungen abzubauen, muss das Gebet von der Kanzel heruntergeholt werden. Aus ganz normalen Mündern kommen, auch mal stotternd und roh – kein sakrales Räucherstäbchen-Spektakel.

Einfach ein paar Menschen, die gemeinsam sagen: «Gott, bitte misch dich ein.»

Auch als Pfarrerin habe ich Gebetshemmungen: Ich will ja niemandem zu nahe treten. Deshalb begnüge ich mich oft damit, anderen die himmelwärts gerichteten Worte abzunehmen. Ich verspreche lieber: «Ich werde für dich beten», statt es an Ort und Stelle zu tun.

Doch wenn ich mich dazu überwinde, eine Gruppe zu einem gemeinsamen Gebet herauszufordern, ernte ich oft Dankbarkeit. Trotz Zurückhaltung scheint es viele zu freuen, wenn sie die Tür zu ihrer eigenen Gebetskammer einen Spalt breit öffnen können. Deshalb möchte ich lernen, etwas hemmungsloser zu beten.

 

Anna Näf, Pfarrerin und Texterin, arbeitet als Jugendarbeiterin bei der reformierten Kirche und setzt sich aktiv für die Klimabewegung ein. Seit 2021 co-moderiert sie zudem den Podcast «Aufwärts stolpern».

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