News aus dem Thurgau
Fokusthema Liebe, Sex und Zärtlichkeit

«Heute gehört es zum guten Ton, dass es um die Sexualität gut steht»

von Tilmann Zuber
min
11.07.2025
Trotz nie dagewesener sexueller Freiheit stolpern viele über ihr Sexleben. Esther Elisabeth Schütz, die «Grande Dame der Schweizer Sexualtherapie», zeigt, wie die MeToo-Bewegung und Pornografie das Liebesleben prägen – und warum ein biblisches Gebot zu erfüllter Sexualität führen kann.

Draussen rauscht die S-Bahn nach Pfäffikon am Fenster der Praxis vorbei. Drinnen laden rote Stühle zum Sitzen ein, ein Perserteppich liegt auf dem Boden, abstrakte Bilder schmücken die Wände. Mir gegenüber sitzt Esther Elisabeth Schütz, die «Grande Dame der Schweizer Sexualtherapie», wie sie die Medien nennen. Unzählige Paare und Singles haben bei der 75-Jährigen Rat gesucht. In den 80er-Jahren unterrichtete Schütz Sexualpädagogik, damals war Aufklärung im Zuge der sexuellen Revolution gefragt. Später prägten Aids, heute die Pornografie und die MeToo-Bewegung die Diskussionen. All das hinterlässt Spuren in den Betten der Schweizerinnen und Schweizer.

«Gibt es noch kirchliche Ehevorbereitungsgespräche oder Kurse?», fragt Schütz unvermittelt. Nein? Vor der Hochzeit innezuhalten und zu überlegen, was die gemeinsame Liebe trägt, welche Erwartungen und Vorstellungen bestehen, sei doch ein wertvoller Moment, meint sie. Heute scheiterten viele Partnerschaften nicht an fehlender Liebe, sondern an der Sexualität, erklärt Schütz. Oft heisst es, die Liebe sei zerbrochen, obwohl eigentlich die Sexualität das Problem war. Liebe und Sexualität seien gleichwertige Säulen einer Beziehung, sie gehörten untrennbar zusammen. Genau hier könne man ansetzen: Bei Konflikten und Schwierigkeiten – ob in der Liebe oder der Sexualität – solle man Hilfe suchen. «Es ist traurig, wenn langjährige Beziehungen mit gemeinsamen Zielen und starker Liebe an sexuellen Problemen zerbrechen.» Und schon sind wir mitten im Thema.

Esther Elisabeth SchĂĽtz, wie steht es um Herrn und Frau Schweizer im Bett?

Zum Glück weiss das niemand so genau, da es noch die Intimsphäre gibt. Studien besagen, dass 65 Prozent der Frauen und 55 Prozent der Männer mit ihrer Sexualität zufrieden sind. Doch wer nimmt an solchen Umfragen teil? Und wird da nicht geschönt? Heute gehört es zum guten Ton, dass es um die Sexualität gut steht. Viele sprechen deshalb nicht über Schwierigkeiten. Unsere Gesellschaft setzt ständig neue Normen, die es erschweren, offen über das Liebesleben zu reden. Dabei sollte man auch sagen dürfen: Ich habe gerade keine Lust. Wenn eine Frau heute beispielsweise erklärt, sie tue dies ihrem Mann zuliebe, löst das Empörung aus.

Sie erleben in Ihrer Praxis diese Schwierigkeiten. Sind das andere als vor 30 Jahren?

Nein, da gibt es kaum Unterschiede zwischen den Generationen. Frauen klagen über Lustlosigkeit oder Orgasmusprobleme, Männer über Erektionsstörungen oder vorzeitigem Samenerguss. Auch bei den Männern nimmt die Lustlosigkeit zu. Und vor allem: Häufig will die eine Person mehr oder etwas anderes, während die andere sich unter Druck gesetzt fühlt. Meistens ist es der Mann, der mehr will, und die Frau, die weniger will. Oftmals kommen die Paare erst spät in die Therapie und tragen die Probleme zu lange mit sich herum.

Was hilft, wenn Paare nicht mehr intim sind?

Zunächst stellt sich die Frage: Wie steht es um die Beziehung und die Liebe? Gibt es noch gemeinsame Vorstellungen, Projekte und Ziele? Dann: Gibt es Körperkontakt im Alltag der beiden? Umarmungen? Zärtlichkeiten? Oft führt der Druck, dass einer mehr will, dazu, dass die Berührungen ganz vermieden werden – aus Angst, sie könnten zu Sex, zum Streit und zu Enttäuschungen führen. Das schadet der Liebe. Ich schaue dann mit dem Paar, wie es beiden geht: der Frau, die sich bedrängt fühlt, und dem Mann, der sich abgelehnt fühlt und dessen Bedürfnisse wie jene der Frau keinen oder selten Platz finden. Dank dem Austausch fühlt sich jede Person in ihrer Verletzlichkeit gesehen und gehört. Dadurch entsteht eine neue Verbundenheit zwischen den beiden. Dies ermöglicht ihnen, die Berührungen auf der Liebesebene auf eine neue Art wieder aufzunehmen. Von dort aus überlegen sie sich, wie und in welcher Form sich die Sexualität wiederbeleben lässt. Paare stehen oft zwischen Realität und Traum. Es gilt, das schätzen zu lernen, was noch besteht, und darauf aufzubauen. Paare können die Liebe als Ressource nutzen, um gemeinsam zu lernen, den sexuellen Austausch derart zu gestalten, dass er beiden guttut.

Das ist ein langer Weg.

Ja, einfache Ratschläge reichen da nicht

Nimmt die Sexualität in der Beziehung mit der Zeit ab?

Leider ja, oft schon früh. In der Verliebtheitsphase ist alles wunderbar und aufregend, doch nach einem Jahr – und erst recht mit Kindern – lässt die gegenseitige Neugier nach. Die Herausforderung ist, die sexuelle Anziehung am Leben zu halten. Geplante Sexualität hat einen schlechten Ruf. Doch sie räumt der körperlichen Begegnung ihren Raum ein, kann Vorfreude und Neugier wecken – etwa durch die Vorbereitung, die Einstimmung, kleine Überraschungen, die jene Person macht, welche abwechslungsweise zuständig ist für die Planung. Wichtig ist, dass das Paar sich für die geplante Begegnung erlaubt, zwischen einem Austausch auf der Liebesebene, einem erotischen Spiel ohne Entladung oder dem sexuellen Austausch zu entscheiden.

Heute ist die Pornografie durch die digitalen Medien permanent zugänglich. Und Online-Datings versprechen unzählige neue Liebesabenteuer. Verändert dies die Sexualität?

Ja, heute leben wir in einer Konsumgesellschaft, die uns Kicks durch Filme, Toys und anderes verspricht – auch in der Sexualität. Das ist eine grosse Herausforderung für das eigene sinnliche Liebesleben. Es scheint oft bieder. Wenn es langweilig wird, kann man sich sofort etwas Neues kaufen und herunterladen. Viele holen sich den Kick von aussen – dort gibt es ein riesiges Angebot –, statt selber zum guten Liebhaber oder zur guten Liebhaberin zu werden. Man kann das lernen.

Lernen? Wie wird man ein guter Liebhaber, eine gute Liebhaberin?

Sie werden sich wundern, die Antwort stammt aus der Kirche: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Wir alle sind mit Atmung, Blutbahnen, Erregungsreflexen und einer enormen Sinnlichkeit der Haut ausgestattet. Die Sexualität befindet sich ja im Bereich des Beckens und der Geschlechtsorgane, dem unteren Teil des Körpers in der Verbindung mit dem Hirn. Die Gefühle, die Emotionen und die Liebe befinden sich im oberen Teil des Körpers. Gute Liebhaber und gute Liebhaberinnen verbinden in ihrem Körper in der sexuellen Erregung beide Dimensionen. Es geht darum, eigene Blockaden zwischen dem Kopf, dem emotionalen Bereich und dem Körper zu lösen – durch Atmung, Bewegung, Achtsamkeit sich selbst gegenüber. Dies fördert zudem die Wahrnehmung des Gegenübers auf einer ganzheitlichen Ebene. Ein guter Liebhaber, eine gute Liebhaberin geniesst das Eigene und schenkt Genuss. Das beginnt mit der Liebe zum eigenen Körper und führt zur Liebe des anderen.

Zu einer anderen Frage: Haben jüngere Menschen heute einen anderen Umgang mit der Sexualität?

Ja, die junge Generation wächst so auf, dass sie ständig von sexuellen Bildern umgeben ist. Durch das Internet gibt es so viele Möglichkeiten. Diese grosse Vielfalt stellt die Jugendlichen vor die Herausforderung, sich für etwas zu entscheiden. Doch Entscheidungen brauchen Wissen. Und das Wissen über die Gestaltung der eigenen Intimität ist bescheiden. Offen über Sexualität zu sprechen und neue Identitäten zu finden, ist heute kein Problem. Doch über die eigene Verletzlichkeit und die Intimität zu reden, fällt vielen schwer. Aller Konsum und digitale Foren helfen da nicht wirklich weiter.

Gibt es eine Übersättigung an sexuellen Reizen?

Ja. Früher regte Andeutung die Fantasie an. Heute stumpfen viele durch den steten Konsum pornografischer Bilder ab. Die Fantasie geht verloren, und die totale Nacktheit führt zu einer Übersättigung. In Langzeitbeziehungen fehlt dann der Reiz für die sexuelle Erregung, vielen reicht es nicht mehr, was sie mit ihrer Partnerin, ihrem Partner erleben.

Heute ist man im Zuge von MeToo und der Debatte über sexuelle Missbräuche bei körperlichem Kontakt zurückhaltend. Wie wichtig sind Berührungen?

Es ist sehr wichtig, dass man heute mit Körperberührungen achtsamer umgeht. Gleichzeitig wissen wir, dass Berührungen Oxytocin freisetzen, ein Hormon, das Bindung und Vertrauen stärkt. Von daher sind Berührungen etwas sehr Zentrales, das jede und jeder von uns braucht. Der Kontakt geschieht aber auch über die Augen und über die Worte. Manche Menschen haben Berührungen nie gelernt.

Nimmt das BedĂĽrfnis nach BerĂĽhrung im Alter ab?

Nein. Selbst Sterbende schätzen es, wenn man ihnen die Hand hält und so die Ängste nimmt. Der Mensch fühlt sich gehalten und aufgehoben. Darum nimmt der Wunsch nach Berührung, Umarmung und Zärtlichkeit auch im Alter nicht ab. Wer Berührungen in jungen Jahren nie gelernt und erfahren hat, sagt vielleicht, ich habe keinen Bedarf, um mit sich im Reinen zu sein. Doch der Mensch bleibt empfänglich für Gesten, die guttun.

Macht ein erfĂĽlltes Sexualleben glĂĽcklicher?

Ja, Sexualität ist Teil der Lebensfreude. Sie ist Teil von dem, was uns der Körper schenkt. Sie gehört zur Gesundheit. Als Sexualtherapeutin würde ich sagen, das sexuelle Erleben ist ein Reichtum, wenn er kultiviert wird.

Was lehrt Sie die christliche Botschaft ĂĽber Liebe?

Wie gesagt: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Sich selbst zu lieben, den eigenen Körper in seiner Schönheit anzunehmen, ist eine lebenslange Aufgabe. Wenn ein Mensch stirbt, dann lässt er den Körper zurück, der ihn durchs Leben trug. Er war unser Zuhause, der Ort unserer Liebe und unserer Sexualität. Wir dürfen hoffentlich unseren Körper mit dem Gefühl verlassen, all seine Sinnesmöglichkeiten genossen, ihn geliebt und mit ihm sorgsam in allen Facetten umgegangen zu sein. Je bewusster man sich dessen wird, was einem selber guttut und was man braucht, desto grösser ist die Achtsamkeit gegenüber dem anderen. Das versöhnt und schafft Frieden mit sich selbst und dem Leben.

Esther Elisabeth Schütz ist eine der profiliertesten Schweizer Sexualtherapeutinnen, Sexologinnen und Pionierinnen im Bereich Sexualpädagogik und -therapie. 1998 rief sie das Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie (ISP) in Uster ins Leben. Später war sie verantwortlich für den Masterstudiengang Sexologie. Seit den 1970ern ist sie in der Sexualpädagogik aktiv.

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