News aus dem Thurgau
Fokus Kirchenmusik

«Ich bevorzuge das Leise und hoffe, dass es jemand hört»

von Reinhold Hönle
min
12.05.2025
Musik hat mit Leben und Glauben zu tun. Der Appenzeller Singer-Songwriter Marius Bear (32) vertrat die Schweiz am Eurovision Song Contest 2022. Im Interview erzählt er über seine Erfahrungen am ESC, den Verlust des Vaters und sein Verhältnis zur Kirche.

Marius Bear, welches ist Ihre schönste Erinnerung an den ESC?

Ich fand es unheimlich spannend, zwei Wochen lang mit Menschen aus 45 Ländern zu verbringen. Das war ein mega Miteinander! Mit der finnischen Band The Rasmus und dem deutschen Sänger Malik Harris bin ich heute noch in Kontakt. Natürlich war es auch ein unheimlich tolles Gefühl, auf die Bühne rauszugehen und vor 30000 Fans im Stadion und 160 Millionen Fernsehzuschauern weltweit mein Lied zu singen.

Sie landeten auf Platz 17, Nemo hat 2024 gewonnen. Wie ist das zu erklären?

«The Code» traf mit den Themen Gender und Selbstverwirklichung voll den Zeitgeist, und Nemo legte einen spektakulären Auftritt hin, der bestens zum ESC passte. Ich könnte kein solches Feuerwerk abziehen, mir liegt die Tiefe näher. Ich bevorzuge das Leise und hoffe, dass es jemand hört.

Zur Musik gekommen sind Sie jedoch durch Ihre Lautstärke im Militär …

Stimmt. Nach einem Antrittsverlesen sagte ein Soldat zu mir, ich wäre immer dreimal lauter als alle anderen Wachtmeister. Mit dieser geilen Stimme müsse ich unbedingt singen. Wir sollten es ausprobieren, er hätte seine Gitarre dabei. So trafen wir uns am Abend, um ein wenig zu jammen, wobei ich realisierte, dass ich tatsächlich ein gewisses Talent habe und das Singen in mir eine Emotion weckt, die ich schon lange gesucht habe und gut für meinen Seelenfrieden ist. Darauf brach ich die Offiziersschule ab und trat an den Wochenenden als Strassenmusiker auf – zuerst in Fribourg, damit es im Appenzell niemand mitbekam! (Lacht.)

Am ESC war ich mir wie Justin Bieber vorgekommen. Wieder zu Hause, kamen zur Krankheit meines Vaters die Trennung von meiner damaligen Freundin und der Verlust der Wohnung dazu.

Ihr ESC-Song im Jahr 2022 hiess «Boys Do Cry». Sind Sie ein Mann, der weint, wenn er besonders Schönes oder Schmerzliches erlebt?

Ja, ich bin ein sehr emotionaler Mensch. Als vor zwei Jahren mein Vater starb, heulte ich wie ein Schlosshund. Als «Papi-Kind» traf mich sein Tod besonders hart. Es war auch extrem: Zwei Wochen nach dem Entscheid, dass ich die Schweiz am ESC vertreten darf, hatte er die Diagnose Hirntumor erhalten. Er sagte jedoch, ich solle nun nicht an ihn denken, sondern an mich glauben und Vollgas geben. Und dies, obwohl ich nicht mehr als Baumaschinenmechaniker arbeitete und eines Tages seine Firma übernehmen wollte, sondern meinem Herzen gefolgt war und Musik machte.

Wie haben Sie diesen Schicksalsschlag verkraftet?

Es gab eine Phase, in der ich professionelle Hilfe brauchte, um dieses Wechselbad der Gefühle zu bewältigen. In den zwei Wochen in Turin war ich mir noch wie Justin Bieber vorgekommen, wenn in der Hotellobby Dutzende von Fans warteten, um Selfies mit den ESC-Teilnehmern zu ergattern. Kaum war ich wieder zu Hause, kamen zur Krankheit meines Vaters die Trennung von meiner damaligen Freundin und der Verlust der Wohnung. Glücklicherweise lernte ich ein halbes Jahr später meine heutige Verlobte kennen. Jasmine hat mir sehr geholfen.

Ich hoffe, dass meine Musik Balsam für die Seele ist.

Wäre es für Sie auch in Frage gekommen, bei einem Seelsorger Trost zu suchen?

Als Kind erschien mir die katholische Kirche eher bedrohlich als hoffnungstiftend, weshalb ich nur an Weihnachten und an Ostern gerne in den Gottesdienst ging. Da ich ein leichtes ADS habe, versteckte ich im Messbüchlein meistens meinen Gameboy. Sonst hätte ich kaum so lange still sitzen können. Grundsätzlich kann ich mit Religionen mehr anfangen, wenn sie Toleranz lehren und zu einem positiven Tun führen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Meine Mutter, die sehr gläubig ist, arbeitete als Krankenschwester. Einmal pro Jahr reiste sie nach Lourdes, um dort eine Woche lang ehrenamtlich Kranke zu pflegen. Ich war oft dabei und war sehr beeindruckt. Ich hätte mir durchaus vorstellen können, beruflich etwas in dieser Richtung zu machen, doch dann ist es anders gekommen. Ich hoffe aber, dass meine Musik Balsam für die Seele ist.

Haben Sie einen Bezug zu Kirchenmusik?

Nein, aber ich habe meine eigenen Lieder schon in zwei Konzertreihen singen dürfen, die in Kirchen stattfinden. Das Lilu-Lichtfestival in Luzern, bei dem man in einer von einem Lichtkünstler ausgeleuchteten Kirche auftritt, ist wunderschön. Auch in der reformierten Kirche Biglen ist die Akustik toll. Leider musste diese Konzertreihe inzwischen eingestellt werden, da sie jemand nicht gepasst hat. Schade, denn ich denke, dass Musik Menschen anlocken und zusammenbringen kann.

Wäre Gospel nicht auch etwas für Sie?

Es ist lustig. Ich höre oft, ich hätte doch eine gute Blues- oder Gospelstimme. Ich selbst fühle mich aber als Indie-Pop-Künstler.

Ein halbes Jahr lang lebten Sie in New York. Wie kam es dazu?

Nach einem Konzert im Zürcher Kaufleuten hat mich der Filmproduzent Rob Lewis angesprochen. Er sagte, er bräuchte meine Stimme für den Soundtrack seines Dokumentarfilms «Lunar Tribute» über den Astronauten Charlie Duke, der 1972 mit Apollo 16 auf dem Mond landete, hätte aber kein Geld, um mich zu bezahlen. Ich könne dafür bei ihm in New York wohnen, freie Kost und Logis.

Was haben Sie dort erlebt?

Nach der Premiere des Films im National History Museum ging Charlie Duke mit dem Direktor des Museums und ein paar Leuten, die am Dokumentarfilm mitgearbeitet hatten, in die Mondabteilung und erzählte uns mitten in der Nacht von seinem Raumflug. Da realisierte ich, wie viele Türen sich nur dank der Musik für mich öffneten und mir die Möglichkeit boten, meinen Horizont zu erweitern.

Sie schlugen uns vor, das Interview in St. Gallen zu machen. Wohnen Sie wieder hier?

Nein, ich bin auf dem Weg zu unseren Proben in Appenzell. Jasmine und ich wohnen im Zürcher Oberland. Ich habe jedoch immer noch viele Kollegen in St. Gallen. Für Appenzeller ist es die erste Stadt, in die sie in den Ausgang gehen.

Marius Bear, Sie sind in den nächsten Monaten mit der «Das Zelt»-Show «Schwiizer Hits» unterwegs und treten neben illustren Kollegen wie Florian Ast, Nicole Bernegger und Ritschi auf. Was singen Sie dort?

Eigene Songs und zwei Coverversionen. Bei mir sind es Marc Sways «Hemmigslos liebe», bei dem ich mich zum ersten Mal verliebte, und «Mis Dach isch de Himmel vo Züri». Die Geschichte, die ich damit verbinde, erlebte ich, als ich für meine musikalische Ausbildung mit Sack und Pack in London eingetroffen war. Ich kam zufällig mit einem Obdachlosen ins Gespräch und bot ihm 50 Pfund an, wenn er mir zeigen würde, wie das ist, unter einer Brücke zu schlafen, und er dabei auf mich aufpasst. Wir sassen dann wie im Klischee um eine brennende Tonne herum und erzählten uns aus unseren Leben. Eines der Schweizer Lieder, die ich ihm zur akustischen Gitarre vorsang, war diese Ballade aus «Die kleine Niederdorfoper».

Was erwartet das Publikum im Herbst bei der «Between Us»-Tournee?

Das wird sehr persönlich, aber auch lustig. Zwischen den Songs, die wir nur zu dritt interpretieren, werde ich die Geschichten dahinter erzählen. Denn ich habe im letzten Jahr in den grösseren Clubs gemerkt, dass ich kein Entertainer bin und auch nicht darauf aus, dass bei den Konzerten mitgeklatscht wird. Dazu passt ein neuer Song. Er ist meinem Vater gewidmet und heisst «When We Get There We Will Know», da er immer zu mir gesagt hat: «Wenn du angekommen bist, wirst du es merken.»

 

Marius Bear

Foto: Rob Lewis

Der Sänger und Songschreiber Marius Bear wurde am 21. April 1993 als Marius Hügli im appenzellischen Enggenhütten geboren. Der gelernte Baumaschinenmechaniker begann als Strassenmusiker, studierte 2017 in London Musikproduktion. Mit dem Titelsong seines dritten Albums, «Boys Do Cry», erreichte er 2022 am Eurovision Song Contest in Turin Platz 17. Er wurde mit Swiss Music Awards als Best Talent und Best Breaking Act ausgezeichnet.

Unsere Empfehlungen

Das Täuferjahr zeigt Früchte

Das Täuferjahr zeigt Früchte

Vor 500 Jahren – am 29. Mai 1525 – wurde in Zürich der erste Täufer Eberli Bolt verbrannt. Woran glaubten die Täufer? Und wie fassten sie im Thurgau Fuss? Philipp Sauder, Leitungsmitglied der Evangelischen Täufer-Gemeinde (ETG) Eggstei in Bischofszell, gibt Einblicke.
Eine Gewalterfahrung, die weitergeht

Eine Gewalterfahrung, die weitergeht

Der Schlussbericht des Forschungsprojekts «Armut – Identität – Gesellschaft» benennt die Ursachen von Armut. Rechtsanwältin Annelise Oeschger und Sozialdiakonin Mirjam Baumann sehen gesellschaftlichen Handlungsbedarf.