News aus dem Thurgau

Sollen sich Kirchen politisch äussern?

von Ernst Ritzi
min
08.11.2024
Kirchen sind auch politisch. Von den Parteien wird das zuweilen als unzulässige Einmischung empfunden. Die Thurgauer Kirchenräte haben zu erklären versucht, warum sie nicht auf politische Stellungnahmen verzichten wollen. Was halten die Parteien davon?

Die Kirchenräte der beiden Landeskirchen haben sich Ende Oktober zu einem Gedankenaustausch mit der SVP-Fraktion im Thurgauer Grossen Rat getroffen. Dabei haben sich der katholische Kirchenratspräsident Cyrill Bischof und die evangelische Kirchenratspräsidentin Christina Aus der Au dazu eingebracht, warum und in welcher Form sich die Kirchen zu politischen und gesellschaftlichen Fragen äussern sollten. Aus der Au hat darauf verwiesen, dass politisches und gesellschaftliches Engagement zur reformierten Schweizer Tradition gehöre.

 

 

«Der Kern des Christentums ist ein hörendes Herz»
Aus der Au sieht die Kirche in zwei Rollen. Zum einen könne und solle die Kirche das gesellschaftliche Miteinander prägen: «Kirche steht dafür, dass es eine Einheit untereinander gibt – trotz unterschiedlicher Positionen. Gerade heute geht es darum, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen.» Dies sei angesichts der Entwicklungen nach Corona, während der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten und vor dem Hintergrund der Präsidentenwahl in den USA umso wichtiger, weil «Gräben durch Völker und Familien gehen». Deshalb ist sie überzeugt: «Wir müssen immer wieder üben, und dafür stehen wir: Der Kern des Christentums ist ein hörendes Herz.»

Einsatz für die Schwachen und für die Schöpfung
Zum anderen werde die Kirche politisch konkret, wenn sie sich – wie auch die Parteien – für die Menschen im «Hier und Jetzt» einsetze: «Wir haben den Auftrag, wie es Jesus in seiner ersten Predigt in der Synagoge gesagt hat, den Armen das Evangelium zu verkünden und den Gefangenen zu predigen, dass sie frei sein sollen.» Eine Verpflichtung der Kirchen sieht Christina Aus der Au auch für die Bewahrung der Schöpfung.

Die Redaktion des Kirchenboten hat zwei Personen aus der FDP- beziehungsweise der SP-Fraktion im Thurgauer Grossen Rat gefragt, was sie von politischen Stellungnahmen der Kirchen halten.

 

Das meinen Barbara Dätwyler und Thomas Leu:

 

Mitsprache: nötig und erwünscht

Barbara Dätwyler, Präsidentin der SP-Fraktion im Thurgauer Grossen Rat.
Barbara Dätwyler, Präsidentin der SP-Fraktion im Thurgauer Grossen Rat.

«Per se haben wir eine Trennung von Kirche und Staat. Jedoch übernehmen die beiden Landeskirchen in der Sozialhilfe, in der Jugendarbeit und in der Seelsorge Aufgaben, mit denen sie die ganze Gesellschaft unterstützen. Es ist deshalb naheliegend und erwünscht, dass sie sich in den Arbeitsfeldern, die sonst der Staat übernehmen müsste, zu politischen Veränderungen und Fragen äussern. Bei den grossen politischen Themen sollen sich die Kirchen wie andere Interessengruppen und die Parteien an der Meinungsbildung beteiligen.

Viele Stimmbürgerinnen und -bürger haben für ihren Entscheid einen Orientierungspunkt. Bei den einen ist es eine Partei oder ein Interessenverband. Bei Menschen, die mit der Kirche verbunden sind, kann es die Kirche sein. Aus meiner Sicht wird die Stimme der Kirchen besonders beachtet, wenn es um den Menschen im inneren Kern und um unseren Lebensraum geht. So erwarte ich keine Stellungnahme zu Strassenbauprojekten, aber sehr wohl zum Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen.

Wenn die beiden Landeskirchen – wie das im Thurgau über die Peregrina Stiftung geschieht – Aufgaben bei der Betreuung und Unterbringung von Asylsuchenden übernehmen, liegt es auf der Hand, dass sie sich zum Umgang unserer Gesellschaft mit Asylsuchenden einbringen. Mich hat das politische Engagement der Kirchen nie gestört, weil die Kirchen sich zu grundsätzlichen Fragen oder zu gesellschaftlichen Aufgaben geäussert haben, an denen sie beteiligt sind.»

Eigenen Werten verpflichtet

Thomas Leu, Präsident der FDP-Fraktion im Thurgauer Grossen Rat.
Thomas Leu, Präsident der FDP-Fraktion im Thurgauer Grossen Rat.

«Kirche und Politik haben viele Gemeinsamke iten. Diese reichen von den Wertvorstellungen unserer christlich geprägten Gesellschaft bis hin zum Bekenntnis, allen Menschen verpflichtet zu sein. Die beiden Landeskirchen nehmen in unserem Kanton eine spezielle Stellung ein. Als öffentlich- rechtliche Körperschaften kommen ihnen kraft ihrer Verfassungen verschiedene Aufgaben zu, die unserer Gesellschaft unbestritten einen Mehrwert bieten.

Politische Mitwirkung oder gar die politische Meinungsbildung als kirchliche Aufgaben zu verstehen, stünde im Widerspruch sowohl zu den verfassungsmässigen Aufgaben der Landeskirchen als auch zum kirchlichen Selbstverständnis, für alle Menschen da zu sein. Eine Landeskirche, die konkret in der politischen Debatte mitmischt, droht Gefahr zu laufen, sich von einem Teil derjenigen, die sich ihr an sich zugehörig fühlen, abzuwenden. Zeigt sie eine starke Verbundenheit zu einer Partei oder gibt sie gar Abstimmungs- oder Wahlempfehlungen ab, wird sie zur Partei.

Als Mitglied der evangelischen Landeskirche wünsche ich mir, dass die vor 155 Jahren entstandenen Landeskirchen auch künftig danach streben, die Menschen zu einen, indem sie ihre christlichen Werte hochhalten. So sorgen sie dafür, dass diese von der Gesellschaft anerkannt und auch gelebt werden. Damit erweisen sie der gesamten Gesellschaft weiterhin einen guten Dienst und sorgen dafür, dass sich die Menschen ihnen und ihren Werten auch in Zukunft verbunden fühlen.»

 

 

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