News aus dem Thurgau
Fokus Stadt und Land

Städter machen Lärm, Dörfler schleppen Baumstämme

von Judith Husistein, Swantje Kammerecker, Katharina Meier, Roman Salzmann
min
01.09.2024
Glarner Kinder dürfen paffen, Bischofszeller Kinder die Nachtruhe stören — an Traditionsanlässen wird so manches geduldet, was sonst verboten ist. Viele Bräuche haben einen religiösen Ursprung: Sie bringen Dank zum Ausdruck und bitten um Bewahrung. Ein unvollständiger Querschnitt durch Stadt und Land.

«Fridlisfüür»: Die Glarner Jugend trägt den Brauch weiter

Die «Fridlisfüür» brennen jeweils am Fridolinstag, dem 6. März, in vielen Glarner Dörfern. Der vorchristliche Mitfastenbrauch hat sich nach der Christianisierung des Glarnerlands im 6. Jahrhundert erhalten. Er wird bis heute zu Ehren des heiligen Fridolin gefeiert, des Glarner Landespatrons. Dazu sammelten früher Schüler (einst ausschliesslich Knaben) eifrig Holz, mit dem Ziel, in ihrer Gemeinde das grösste Feuer leuchten zu lassen. Das ging teils so weit, dass konkurrierende Dörfer versuchten, das Feuer des anderen Dorfes bereits vorher anzuzünden. Heute organisieren die Gemeinden das Feuerholz. Der Brauch der «Fridlisfüür» erfreut sich nach wie vor grosser Beliebtheit. Ein Kuriosum, das man noch immer antrifft, sind Kinder, die Zigaretten oder Nielen paffen. Diese «Tradition» ist kontrovers, wird aber als Ausnahme geduldet.

 

Glarner Jugendliche zünden das «Fridlisfüür» ihres Dorfes an. Foto: Ruedi Kuchen, Schwanden

Glarner Jugendliche zünden das «Fridlisfüür» ihres Dorfes an. Foto: Ruedi Kuchen, Schwanden

Welches Dorf hat das grösste Feuer? Die «Fridlisfüür» erfreuen sich bis heute grosser Beliebtheit. Foto: Ruedi Kuchen, Schwanden

Welches Dorf hat das grösste Feuer? Die «Fridlisfüür» erfreuen sich bis heute grosser Beliebtheit. Foto: Ruedi Kuchen, Schwanden

 

Bischofszell: Amtlich bewilligte Nachtruhestörung

Wer Lärm machen will, muss in Bischofszell früh aufstehen: Am Silvestermorgen um fünf Uhr trifft sich die Schuljugend zum traditionellen Silvesterläuten unter dem Bogenturm. Bevor das Spektakel beginnt, verlesen die Nachtwächter die Bewilligung der Obrigkeit, die besagt, dass das Lärmmachen an diesem Morgen ausnahmsweise erlaubt ist. Danach begeben sich die Mitglieder der Nachtwächter- und Türmerzunft zur Geistlichkeit (zu den Kirchen und Pfarrhäusern) und zur Obrigkeit (zum Rathaus), um zu huldigen und gemeinsam dankbar zu sein, dass man im zu Ende gehenden Jahr vor Unheil und Schicksalsschlägen verschont geblieben ist. Dankbarkeit zum Jahresende zu teilen, ist ein alter Brauch, den die Nachtwächter in weiten Teilen Europas seit Jahrhunderten pflegen.

 

Bischofszeller Nachtwächter. Am Silvestermorgen verlesen sie jeweils die Bewilligung der Obrigkeit, die besagt, dass Lärmmachen an diesem Morgen ausnahmsweise erlaubt ist. Foto: Paul Wellauer

Bischofszeller Nachtwächter. Am Silvestermorgen verlesen sie jeweils die Bewilligung der Obrigkeit, die besagt, dass Lärmmachen an diesem Morgen ausnahmsweise erlaubt ist. Foto: Paul Wellauer

Der Pfarrer oder die Pfarrerin erhält als Dank von den Nachtwächtern jeweils einen Nachtwächterbutter. Foto: Paul Wellauer

Der Pfarrer oder die Pfarrerin erhält als Dank von den Nachtwächtern jeweils einen Nachtwächterbutter. Foto: Paul Wellauer

 

Betruf: Alpsegen per «Megafon»

Mit einem geschnitzten Holztrichter vor dem Mund ruft der Senn – ob im St. Galler Rheintal, in der Zentralschweiz, im Toggenburg oder im Appenzellerland – den Alpsegen. Der über die Weiden und Alpen gerufene Segen soll Schutz für die Nacht gewähren und im bannenden Kreis alles, was dem Schutz anbefohlen wird, vor zeitlichem und ewigem Feuer, vor Hagel, Blitz, Seuchen, vor Hunger und Krieg bewahren. Lange war der seit dem Mittelalter belegte Betruf Männersache. Unterdessen pflegen auch Frauen diesen Brauch.

 

Wie ein riesiges Megafon: der überdimensionierte Betruftrichter der Klangwelt Toggenburg. Foto: meka

Wie ein riesiges Megafon: der überdimensionierte Betruftrichter der Klangwelt Toggenburg. Foto: meka

 

Blochmontag: «Zäuerle» und Bäume schleppen

Im Appenzellerland finden zur Fasnachtszeit Blochumzüge statt: Verkleidete Männer oder Buben ziehen einen geschmückten Baumstamm auf einem Wagen durch die Dörfer. Seit Kurzem sind auch Mädchen beteiligt. Sie erfreuen die Menschen mit Zäuerli, dem typischen Appenzeller Jodelgesang. Als Dank werden sie unterwegs bewirtet. Der Ursprung des Brauches stammt aus früheren Zeiten, in denen als Abschluss des strengen und gefährlichen winterlichen Holzschlages ein Baumstamm ins Dorf gebracht und dort versteigert wurde.

Toggenburg: Jodeln und «juuzen» für Städter

Was der Bauer kann, will der Städter auch können: jodeln und «juuzen». Damit dies gelingt, finden bei der «Klangwelt Toggenburg» Jodelkurse statt. Während eines Wochenendes wird die Jodeltechnik von Grund auf erlernt, damit im Kopfton oder mit dem Brustton – der Überzeugung – «Juuzer» und Jodel erklingen, – auch beim Anfänger.

 

Fokus Stadt und Land

Zwischen Alphorn und Yogamatte

Seit Jahren bewirtschaftet die Politik den Stadt-Land-Graben. Der Fokus Stadt und Land geht der Frage nach, ob es diesen Graben auch in der reformierten Kirche gibt. Ticken die Gläubigen im Münstertal anders als jene in Schwamendingen? Steht die Kirche auf dem Land noch im Dorf? Und wie funktioniert Kirche in der Stadt?

Unsere Empfehlungen

Steht die Kirche noch im Dorf?

Steht die Kirche noch im Dorf?

Christoph Sigrist war Pfarrer in Stein im Toggenburg und am Zürcher Grossmünster. Er hat zu Bauern wie zu Bankern gepredigt und weiss, wie die Menschen auf dem Land und in den Städten ticken. Ein Beitrag zum Fokusthema Stadt und Land.
«Lasst die Sau raus!»

«Lasst die Sau raus!»

Die Säulirennen an der Olma sind seit Jahren der Publikumsmagnet schlechthin. Der Mensch wird zum Tier, um einen Platz in der Arena zu ergattern. Das traditionelle Rennen aus der Perspektive einer Rennsau?