News aus dem Thurgau
Klima-Urteil

«Verkauft unsere Zukunft nicht für das heutige Vergnügen»

von Carole Bolliger
min
19.04.2024
Die Klima-Seniorinnen erlangten vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte einen Sieg. Die Schweiz muss jetzt mehr für den Schutz des Klimas unternehmen. Mit dabei in Strassburg die Zugerin Johanna Niederberger, Mitglied des Grossen Kirchgemeinderates.

Johanna Niederberger, Sie und Ihre Mitstreiterinnen vom Verein Klima-Seniorinnen haben vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewonnen: Die Richter gingen auf die Klage ein, dass die Schweiz die Menschenrechte der älteren Frauen verletze, das Land tue nicht das Nötige gegen die fortschreitende Klimaerwärmung. Hand aufs Herz, wie überrascht sind Sie über dieses Urteil?

Dass wir ernstgenommen werden, das hatte ich erwartet. Das EGMR sagte, dass die Schweiz unserem Verein vom Uvek bis zum Bundesgericht zu Unrecht kein faires rechtsstaatliches Verfahren gewährt hat. «Der Klimaschutz ist ein Menschenrecht», diese Aussage des EGMR hat mich gefreut, wenn auch überrascht. Auch über das weltweite Echo des Urteils bin ich überrascht.

Was bedeutet das Urteil für Sie persönlich?

Ich habe grosse Sorgen und fühle mich mitverantwortlich für die Zukunft von uns Menschen. Die Gletscher schmelzen, im Hochsommer wird das Wasser knapp, die Schutzwald- und Obstbäume verdorren und vieles mehr. Mit der Mitgliedschaft bei den Klima-Seniorinnen kann ich aktiv etwas tun. Dass wir vom EGMR recht bekommen haben, bedeutet mir viel und spornt mich zusätzlich an.

Den Klima-Seniorinnen wurde von den Schweizer Instanzen der Weg über die Abstimmungen nicht ermöglicht.

Weshalb engagieren Sie sich so stark für das Klima und auch in der Kirche? 

Ich zitiere hier den Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz: «Zusammen mit allen christlichen Konfessionen gehört der Glaube, dass das gesamte irdische Leben von Gott erschaffen und den Menschen zur verantwortungsvollen, sorgfältigen Bebauung und Bewahrung anvertraut ist, zu unseren Grundlagen.» Diesem Zitat schliesse ich mich an.

Sollten sich die Kirchen mehr für den Klimaschutz einsetzen?

Die reformierte Kirche Zug hat bereits ein klimaneutrales nachhaltiges Heizsystem sowie eine naturnahe Umgebungsgestaltung der Kirche umgesetzt oder geplant. Vor drei Jahren hatte ich erfolglos in der Bezirkskirchenpflege die Einführung und Umsetzung eines zertifizierten Umweltmanagements vorgeschlagen. Die Kirche könnte eine Vorbildwirkung einnehmen.

Und Sie persönlich? Haben Sie Ihren Lebensstil geändert?

Wir haben kein Auto, wir fahren mit dem Generalabonnement der SBB in der Schweiz und per Zugbillett oder Interrail im Ausland. Ich kaufe am Samstagmorgen auf dem Markt «Landgemeindeplatz» oder beim Grossverteiler möglichst Bio-Produkte ein. Fleisch essen wir wenig und achten dabei auf die Herkunft. Manchmal kaufe ich mir mit Freuden neue Kleider im Kleidergeschäft, aber auch im Brockenhaus.

Lohnt sich diese Umstellung, auch in Bezug auf Ihre Lebensqualität?

Auf jeden Fall. Mein Mann und ich sind mit unserer Lebensqualität sehr zufrieden.

 

Die Klima-Seniorinnen in Strassburg

Von der Presse umringt: Die Klima-Seniorinnen nach der Urteilsverkündung. | Foto: Nafissi/Greenpeace

Die Klimaerwärmung macht Menschen krank. Besonders ältere Menschen. Wegen der häufigeren und intensiveren Hitzewellen steigen die Risiken, frühzeitig krank zu werden oder zu sterben, für sie übermässig an. So lautete die Klage der Klima-Seniorinnen, die sie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Schweiz einreichte. Und der Verein bekam Recht. Johanna Niederberger ist Mitglied des Grossen Kirchgemeinderates und der Kirchenpflege Zug und reiste mit dem Verein nach Strassburg.

 

Im Moment stehen die Klima-Seniorinnen auch im Zentrum der Kritik: Sie wollen etwas gerichtlich erzwingen, was sich demokratisch nicht an der Urne durchsetzen lässt, so der Tenor. Warum setzen sie nicht stärker auf Abstimmungen?

Den Klima-Seniorinnen wurde von den Schweizer Instanzen der Weg über die Abstimmungen nicht ermöglicht. Die dritte Gewalt der Demokratie sind die Gerichte. Richter und Richterinnen müssen sich nicht an vermeintlichen ökonomischen Sachzwängen orientieren. Ihre Wiederwahl hängt nicht von einem Entscheid in einer Sache ab, wie dies in der Politik geschehen kann.

Ja zum Flughafenausbau Kloten, ja zu mehr Freizeitverkehr und nein zum Klimagesetz vor zwei Jahren. Ihr Vorstoss zielt auf die Politik, aber wie es scheint, will die Bevölkerung ihren Lebensstil nicht ändern. Was meinen Sie dazu?

Das ist eine schwierige Frage. Wenn die Menschen einsehen, dass nur ein gesellschaftlicher Umbau dazu beiträgt, den Anstieg der Temperaturen zu verlangsamen, und sich Gesellschaften an die neuen klimatischen Bedingungen anpassen, besteht Hoffnung für die Kinder und Enkelkinder.

In meiner Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof machten wir keine Ferienreisen. Aber die Zeit vor 50 Jahren lässt sich nicht mit heute vergleichen.

Was antworten Sie einem 20-Jährigen, der sagt, ihr Senioren und Seniorinnen seid in der Welt herumgereist und habt unendlich viel CO2 ausgestossen, und nun sollen wir uns zurückhalten?

Es stimmt: Flugreisen sind für einen bedeutenden Teil der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Es ist nicht wahr, dass die Seniorinnen und Senioren unendlich viel in der Welt herumgereist sind. In meiner Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof machten wir keine Ferienreisen. Aber die Zeit vor 50 Jahren lässt sich nicht mit heute vergleichen. Gemäss Cyril Brunner, Umweltwissenschafter an der ETH, macht jede Person in der Schweiz 6,3 Flüge pro Jahr. Wir sind nicht jedes Jahr per Flugzeug verreist, Velofahren im europäischen Ausland ging auch ohne Flugreisen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, das Urteil liegt vor: Was erwarten Sie nun vom Bund konkret?

Der Bund erstellt ein CO2-Budget, das festlegt, wie viel CO2 das Land noch in die Luft ablassen dürfte, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Das 1,5-Grad-Ziel hat die Schweiz im Pariser Abkommen unterschrieben. Dazu muss der Bund eine Strategie (beispielsweise zur Wahl der Mittel) entwickeln zur Reduktion der CO2-Emissionen. Der Bund muss präzise Ziele formulieren und die Fortschritte der Klimareduktion überwachen.

Ich könnte mir ein CO2-Kontingent vorstellen für den einzelnen Menschen.

Können ältere Menschen auch etwas gegen den Klimawandel tun?

Ja, die Seniorinnen und Senioren sollen sich nun zurückhalten, ihre Fotoalben anschauen und sich an den durchgeführten Reisen freuen oder per Zug reisen, welcher 90 Prozent weniger Energie braucht als Flugzeuge.  Ich könnte mir ein CO2-Kontingent vorstellen für den einzelnen Menschen. Einfach die Preise für Flüge und Treibstoff zu erhöhen, wäre für die 20-Jährigen ungerecht – handeln Sie solidarisch mit den jungen Menschen! Reflektieren Sie Ihren eigenen Lebensstil, verdrängen Sie nicht die Tatsachen im Hinblick auf unsere Lebensgrundlagen, verkaufen Sie die Zukunft nicht für das heutige Vergnügen, trauern Sie nicht über den Verlust von Möglichkeiten. Wenn wir das unterlassen, werden die Temperaturen weiter steigen und die sozialen, politischen Auseinandersetzungen werden sich verschärfen. 

Und was raten Sie Ihren Enkeln, die in einer neuen digitalen Welt aufwachsen?

Wir haben keine Enkel, aber Grossnichten, eine Urgrossnichte und Neffen. Ich kann ihnen nichts raten, aber für sie wünschen: kritisch hinterfragen, den Diskurs zu unseren Lebensgrundlagen nicht scheuen, Zivilcourage haben und Vertrauen haben, um Neues zu wagen. Und das Lesen der Bergpredigt, welche eine Provokation ist gegen die herrschenden Werte. Die Bergpredigt war auch eine Leitlinie und Haltung unter anderem für Gandhi und Mandela, welche die Gegenwart verändert haben.

 

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