News aus dem Thurgau
Stefanie Mahrer, Historikerin

«Verschwörungstheorien sind Welterklärungsmodelle»

von Toni Schürmann
min
02.05.2023
Die Komplexität in der globalisierten Welt hat sich vervielfacht. Viele Menschen sind damit überfordert. Die Historikerin Stefanie Mahrer erklärt, warum heute so viele Verschwörungstheorien kursieren und wie gefährlich sie sind.

 

Frau Mahrer, stimmt der Eindruck, dass heute die Verschwörungstheorien stark zugenommen haben?

Ja, wir befinden uns in einer Wendezeit, und in solchen Zeiten haben Verschwörungstheorien einen Aufschwung.

 

Aber Verschwörungstheorien sind ein altes Phänomen?

Historisch gesehen entstand die heutige Form von Verschwörungstheorien in der Zeit der Französischen Revolution und der Aufklärung. Damals bildeten sich die bis heute typischen Erzählungen heraus, die sich der jeweiligen Zeit anpassten.

Verschwörungstheorien sind Welterklärungsmodelle. Sie helfen, eine enorm komplex gewordene Welt vermeintlich zu verstehen. Und unsere heutige Welt ist sehr komplex.

 

Warum ausgerechnet zur Zeit der Französischen Revolution? Schliesslich gab es schon im Mittelalter verheerende Verschwörungserzählungen wie etwa die «Brunnenvergiftung» durch die Juden.

Für die Menschen kurz vor 1800 war die Welt ähnlich komplex wie für uns heute. Im Zeitalter der Aufklärung mit seinen Umbrüchen herrschte grosse Verunsicherung. Im Mittelalter und in der Vormoderne war die Weltordnung relativ klar. Es gab Gott und seinen Gegenspieler, den Teufel, der mit seinen Handlangern in der Welt wirkte. Auch damals wurden Schuldige gesucht und entsprechend diffamiert: «Hexen» und «Juden». Aber die Argumentation war eingebettet in ein religiöses Sinnsystem von Gut und Böse.

Im Mittelalter und in der Vormoderne war die Weltordnung relativ klar. Es gab Gott und seinen Gegenspieler, den Teufel.

Und das änderte sich mit der Aufklärung?

Mit der Aufklärung verloren das Christentum und die Kirchen ihre Deutungsmacht. Politisch wurde mit der Französischen Revolution die Ständegesellschaft abgeschafft. Neue politische und soziale Ordnungen wurden erprobt, die Volksschule wurde eingeführt, die Alphabetisierungsrate stieg. Mehr Menschen konnten Texte verfassen und über das aufblühende Zeitschriften- und Nachrichtenwesen rasch verbreiten – plötzlich war nichts mehr so, wie es gewesen war. Das löste eine grosse Verunsicherung aus, und man suchte nach Schuldigen. Diese fand man nun in der Gesellschaft. Was gleich blieb, war, dass Minderheiten wie die Juden wieder der Verschwörung bezichtigt wurden.

 

Warum blühte der Antisemitismus gerade im 20. Jahrhundert auf?

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Vorstellung der «jüdischen Weltherrschaft» zum Mainstream und galt als legitimes Wissen in der Gesellschaft. Dieses Verschwörungsnarrativ führte in die Katastrophe des Holocaust. Heute befeuern die neuen Medien wieder den Antisemitismus.

 

Wann sind Verschwörungstheorien besonders populär?

Die Grundfunktion von Verschwörungstheorien besteht darin, die Komplexität der Welt zu reduzieren. Deshalb tauchen Verschwörungstheorien verstärkt in Krisenzeiten auf. Zum Beispiel nach 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Damals verstärkte sich der bereits vorhandene Antisemitismus. Heute ist die Welt noch komplexer, weil wir mehrere grosse Krisen erleben: die Pandemie, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, Flüchtlingskrise, steigende Energie- und Lebensmittelpreise und weltweite Inflation. Es kommt sehr viel zusammen. Und es ist schwierig, dies alles zu verstehen und damit umzugehen.

 

Historikerin Stefanie Mahrer Porträtbild

Vortrag in Basel: Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart

Stefanie Mahrer, Assistenzprofessorin für Schweizerische und Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Bern, gibt in ihrem Vortrag einen Überblick über Geschichte und Funktion moderner Verschwörungstheorien und geht anhand konkreter Beispiele aus jüngster Zeit der Entstehung, Verbreitung und Multiplikation dieser oft nicht unproblematischen Welterklärungen nach.

Donnerstag, 4. Mai, 19 Uhr, Zwinglihaus, Gundeldingerstrasse 370, Basel. Eintritt frei, Kollekte.

 

Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Anhänger von Verschwörungstheorien?

Es gibt eine relativ stabile und deshalb erstaunlich grosse Zahl von etwa 30 bis 40 Prozent der Menschen, die an Verschwörungen glauben. Das ist bald die Hälfte der Gesellschaft, mehr als je zuvor. Es sind etwas mehr Männer als Frauen.

 

Warum Männer?

Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Gruppe der weissen Männer in den letzten 40 Jahren gesellschaftlich am meisten in Frage gestellt wurde. Weisse Männer haben, vor allem in den USA, ihre Vorrangstellung verloren. Sie fühlen sich vernachlässigt und nicht mehr wert als Frauen oder Schwarze. Dieser Verlust von Privilegien erhöht die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien. Und sie suchen einen Sündenbock für ihren Niedergang.

Der Verlust von Privilegien erhöht die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien.

30 bis 40 Prozent der Bevölkerung: Das ist eine unglaublich hohe Zahl.

Richtig, aber bei den meisten, die Verschwörungstheorien anhängen, steht nicht die grosse Weltverschwörung im Vordergrund. Sie bezweifeln beispielsweise die Wirkung von Impfungen, sehen in der Pharmaindustrie eine Lobby mit böser Hidden Agenda oder vermuten in den Kondensstreifen von Flugzeugen sogenannte Chemtrails, also das Ausbringen von Chemikalien, die das Klima beeinflussen oder Menschen vergiften.

 

Heute demonstrieren die Verschwörungstheoretiker gegen den Staat.

Ja, in ihren Augen steckt hinter allem ein System, geheime Personen und Gruppierungen, die bewusst die Gesellschaft mit bösen Absichten lenken. Zum Beispiel: Das Coronavirus wurde eigens verbreitet, um dem Staat oder der geheimen Gruppierung die Macht zu geben, die Menschen zu bevormunden und in ihren Freiheitsrechten einzuschränken. Die Impfung sei Teil dieses grossen Plans und soll uns in Wirklichkeit schädliche Stoffe in unseren Körper schleusen. Deshalb werden Verschwörungstheoretiker gesellschaftlich aktiv, äussern lautstark ihre Meinung und nehmen an Demonstrationen teil. Das verleiht ihnen angebliche Handlungsmacht und Bedeutung, und sie fühlen sich wahrscheinlich kurzfristig besser.

 

Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?

Eine sehr grosse. Es ist nicht nur so, dass jeder im Netz verbreiten kann, was er will. Das Problem sind auch die Algorithmen. Wer zum Beispiel während der Pandemie auf Facebook nach Informationen über Alternativen zur Impfung suchte, bekam nur spezifische einseitige Antworten. So bewegte man sich bald in der berüchtigten Blase und fand sich in einem geistigen «Rabbit Hole» wieder.

 

Wie gefährlich ist dies für eine Demokratie?

Gefährlich wird es, wenn Verschwörungstheoretiker die Gesellschaft spalten und das Fundament der Demokratie untergraben. Die schweizerische Demokratie hat sich lange bewährt und ist im Vergleich zu jüngeren Demokratien stabil. Sie basiert auf Konsenspolitik und kennt weniger politische Extreme. Dennoch erleben wir in weiten Teilen Europas und in den USA ein Erstarken des Rechtspopulismus. Hier werden Verschwörungstheorien bewusst als Instrument eingesetzt, um das Vertrauen in den Staat zu untergraben. Das Narrativ der «gestohlenen Wahl» etwa spaltet die Bevölkerung in den USA und stellt demokratische Prozesse in Frage.

Wir stellen fest, dass die Anfälligkeit für Verschwörungsnarrative nicht von der Bildung abhängt.

Schützt Bildung gegen Verschwörungstheorien?

Ein gutes Bildungssystem mit guten Volksschulen, wie wir es in der Schweiz und in vielen Ländern Europas haben, trägt auf jeden Fall dazu bei, Verschwörungstheorien die Stirn zu bieten. Die Schulen müssen jedoch verstärkt Medienkompetenz fördern. Wir stellen fest, dass die Anfälligkeit für Verschwörungsnarrative nicht von der Bildung abhängt. Die Geistes- und Sozialwissenschaftler, die sich per se mit der Komplexität der Welt befassen, sind tendenziell weniger verschwörungstheoretisch eingestellt als die Natur- und Ingenieurwissenschaftler. Deren Denken basiert stärker auf dem Ursache-Wirkungs-Schema. Vergessen wir nicht: Unsere Welt ist hochkomplex, aber sie darf bis zu einem gewissen Grad unerklärlich bleiben. So kann man sich auch von der Komplexität entlasten, ohne in Extrempositionen und Welterklärungen zu verfallen.

 

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