Wie ich beinahe ein besserer Mensch wurde
Zu spät bemerke ich die zwei jungen Frauen mit Klemmbrett vor der Bahnhofshalle. Ihre Blicke fangen mich wie ein Netz. Mist. Meine Urinstinkte drängen mich zur Flucht. Doch diesmal gibt es kein Entrinnen: Mein peripherer Blick verrät mir, kein anderes Opfer ist in der Nähe, das sie ablenken könnte. Für ein Tarnmanöver ist es zu spät – sich jetzt noch flach auf den Boden zu legen, wäre wenig hilfreich.
«Bist du auch der Meinung, dass jedes Kind Zugang zu sauberem Wasser haben sollte?», fragt ein offenherziges, gepierctes Gesicht. Die junge Frau schaut mich an, als wäre ich eine alte Freundin.
«Sorry, keine Zeit», sage ich und wende mich sofort ab, um ihren manipulativen Kräften zu entkommen. Während ich einen Ausfallschritt mache, um mich an ihr vorbei durch die Eingangstür zu drängen, sagt sie: «Mit nur zwei Minuten kannst du einem Kind das Leben retten – hast du dafür etwa keine Zeit?» Dabei zwinkert sie mir zu, als wäre das ein Witz, den nur wir zwei verstehen.
Was soll man darauf bloss antworten? Als hätte sie mein ganzes Leben zusammengefaltet, habe ich das Gefühl, dass sich in diesem einen Moment entscheidet, ob ich ein guter Mensch bin oder nicht. Ich kenne die Antwort bereits. Also gehe ich wortlos durch die Tür und lasse die Spendensammlerinnen hinter mir. Doch das schlechte Gewissen steigt mit mir in den Zug ein.
Nun blickt es mir aus der Spiegelung der Fensterscheibe entgegen. «Ich weiss ja nicht, ob die das Geld sinnvoll einsetzen – und allen helfen kann ich ja sowieso nicht», verteidige ich mich.
Drei Haltestellen lang diskutiere ich mit meinem Gewissen – bis mir klar wird: Diese Gedanken machen mich entweder kaputt oder überheblich. Aber sicher nicht zu einem besseren Menschen. Auf einmal höre ich in meinem Innern diese göttliche Stimme, die sich in solchen Momenten oft meldet. «Lass mal die Kategorien gut und schlecht weg. Wen siehst du in deinem Spiegelbild?», fragt sie. Im unscharfen Gesicht in der Scheibe sehe ich eine, die helfen möchte. Die nicht immer kann. Und manchmal nicht genug fest will.
«Und du – wen siehst du?», frage ich zurück. Die Stimme erzählt von der Freundin, die kürzlich sagte, ich sei für sie wie eine Schwester. Von dankbaren Worten und Umarmungen. Je mehr ich ihr zuhöre, desto mehr verändert sich der Blick meines Spiegelbildes. Die junge Frau schaut mich an, als wäre ich eine alte Freundin. Auf einmal habe ich den starken Drang, der NGO meines Vertrauens eine Spende zu überweisen. Nicht, um ein guter Mensch zu sein. Sondern einfach, weil es sich gerade richtig anfühlt.
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Anna Näf, Pfarrerin und Texterin, arbeitet als Jugendarbeiterin bei der reformierten Kirche und setzt sich aktiv für die Klimabewegung ein. Seit 2021 co-moderiert sie zudem den Podcast «Aufwärts stolpern».
Wie ich beinahe ein besserer Mensch wurde