News aus dem Thurgau

Zwei Läuterbuben steigen aus

von Meike Ditthardt
min
24.08.2023
Kirchen bergen viele Geheimnisse, Geschichten, Emotionen. Da ist es gut, wenn Zeitzeugen in diese Geheimnisse einweihen können. Victor Marti und Armin Bosshard aus Oberhofen haben eine Kirchenglockengeschichte zu erzählen…

Es waren einmal zwei Lengwiler Lausejungen. Der Papa von Victor war Messmer, und so fragte er seinen Sohn, ob er das Läuten der Kirchenglocken in den Ferien und an den Sonntagen sowie bei Taufen und Beerdigungen in der Kirchgemeinde Lengwil in Oberhofen übernehmen könne. Victor dachte sich, dass es ein grosser Spass werden könnte, wenn er gemeinsam mit seinem Freund die Glocken zum Schwingen brächte. So wurden die beiden Freunde Victor und Armin in den 50er-Jahren als Läuterbuben angeheuert.

Mit der richtigen Glocke läuten

Zum damaligen Zeitpunkt gab es drei Glocken: Die kleinste Glocke von Leonhard Rosenlächer wurde 1725 gegossen, die zweitgrösste 1729 und die drittgrösste 1810. Armin erzählt: «Es war besonders schwer, die mittleren Glocken zu läuten. Das brauchte viel Kraft.» Die beiden Jungen erhielten als Lohn für ihre Glöckner-Dienste ein wenig Sackgeld und feinen Kuchen. Sie genossen es, wenn sie allein in der Kirche waren und alles genau inspizieren konnten. So fanden sie es faszinierend, das Uhrwerk mit einer Kurbel aufzuziehen.

Als sie einmal an Silvester die Glocken läuten sollten, hielten sie sich nachher noch länger in der Kirche auf. Sie kletterten die Empore hoch und sahen sich die Orgel an. Die roten Orgelpfeifen weckten ihre Aufmerksamkeit, und sie beschlossen, diese mal genau zu untersuchen und auseinanderzunehmen. Die Mutter von Victor war von diesem Bauexperiment weniger begeistert. An einem anderen Tag schauten sie in den Kollektensack. Dort fanden sie die Kollekte vom Sonntag, die offenbar vergessen worden war. Victor versichert: «Aber wir haben das Geld nur gezählt, nachher haben wir alles wieder zurückgelegt!»

Ihre Aufgabe war es, bei Taufe und Beerdigung jeweils die richtige Glocke zu läuten. Armin erzählt: «Bei einer Taufe durften wir nur die kleinste Glocke läuten, bei Beerdigungen richtete es sich danach, wer gestorben war: Bei einem Mann mussten wir die grosse Glocke läuten, bei einer Frau die mittlere und bei einem Kind die kleine.»

Oh Land, Land...

Zukunftspläne schmieden

Als die Jungen im Konfirmandenalter waren, läuteten sie am Sonntag die Kirchenglocken und blieben anschliessend im Glockenturm, anstatt in den Kirchraum zu gehen. Sie schmiedeten Zukunftspläne und überlegten, wie sie jetzt am besten aus dem Turm herauskämen, um dem Gottesdienst zu entgehen. Victor, der von einer Karriere als Bauingenieur träumte, kam auf eine glorreiche Idee: Warum nicht Hammer und Meissel aus dem Werkzeugkasten nehmen und einfach ein Loch auf der Westseite des Kirchturms hineinschlagen, um heimlich nach draussen zu schleichen? Gesagt, getan. Und schon krochen die beiden handwerklich begabten Jungen durch das perfekt ausgehauene Loch und sprangen in die Freiheit. Auch wenn das Loch nicht unentdeckt und ohne Strafe blieb, war doch der Anfang der Bauingenieurskarriere gelegt!

So hatten die Kirchenglocken schliesslich eine wegweisende Bedeutung für ihn – ebenso wie für Nathalie Poletti aus Oberhofen, die sich ein Leben ohne Glocken nicht vorstellen kann.

Glocken beruhigen und geben

Halt Sie erinnert sich an ein traumatisches Erlebnis aus ihrer Zeit in Frankreich, als ihre Grand- Mère ihr am Karfreitag erzählte, dass die Kirchenglocken nicht mehr läuten würden, weil sie auf ihrer Reise nach Rom seien und erst an Ostern wiederkämen. Tatsächlich seien sie an Ostern mitsamt vieler Osterhasen und anderer Süssigkeiten wiedergekommen, aber sie habe die Zeit ohne Glocken als etwas Furchtbares erlebt. Sie sei so froh gewesen, dass in der Schweiz keine Kirchenglocken an Karfreitag verschwänden… Nathalie Poletti erklärt: «Für mich haben Glocken etwas Beruhigendes, Rhythmisches. Man kann sich an ihnen halten. Unsere Glocken in Oberhofen haben einen wunderschönen dunklen Klang.» Dieser Klang ergibt sich aus dem Miteinander der drei alten Glocken aus zwei Generationen von der Konstanzer Glockengiesserei Rosenlächer und einer modernen Glocke (Jahrgang 1965) der Aargauer Glockengiesserei Rüetschi. Das Unternehmen ist gerade mit dem Aargauer Heimatschutzpreis 2023 ausgezeichnet worden. Die alten Glocken geben dem Geläute ein barockes Gefüge, das eher tief und dumpf klingt. Nathalie Poletti meint: «Ich habe dieses dunkle Geläute lieber als helle, weil helle Glocken eher nervös und hektisch klingen.» Sie fügt schmunzelnd hinzu: «Sie können einen aber auch nervös machen, wenn es um 11 Uhr läutet und das Mittagessen noch nicht gekocht ist!»

Die Läuterbuben Victor Marti und Armin Bosshard in den 1950er-Jahren.

Die Läuterbuben Victor Marti und Armin Bosshard in den 1950er-Jahren.

Die Läuterbuben Victor Marti und Armin Bosshard heute.

Die Läuterbuben Victor Marti und Armin Bosshard heute.


Glocken seien für sie Wegbegleiter: bei der Taufe, im Gottesdienst, bei der Hochzeit und der Beerdigung. «Sie schliessen einen Kreis und hören nie auf. Auch wenn man in Trauer ist. Sie sind ein Symbol dafür, dass es weiter geht. Das ist für mich etwas Wunderbares und Beruhigendes.» Glocken seien auch perfekt, um zeitlich etwas abzumachen, zum Beispiel zu Kindern zu sagen: «Wenn die Glocken abends läuten, kommt bitte nach Hause.»

Manche Kinder können ohne das Läuten der Kirchenglocken nicht einschlafen oder fühlen sich heimatlos. Als unsere Tochter Michèle zehn Jahre alt war und wir ihr erzählten, dass wir umziehen und in eine andere Kirchgemeinde wechseln würden, begann sie laut zu schluchzen: «Aber dann kann ich meine Kirchenglocken gar nicht mehr hören!» Daraufhin versicherten wir ihr, dass es dort auch wieder Kirchenglocken direkt neben dem Pfarrhaus geben würde – und schon war ihre kleine Kinderwelt wieder in Ordnung.

Für den Landwirt Daniel Tschannen haben die Glocken am Morgen eine ganz besondere Bedeutung: «Ich höre am Morgen meistens beim Pferdemisten die Kirchenglocken von Oberhofen und Illighausen. Dieses Zeichenläuten erinnert mich an die Kirche und meinen Glauben. Gedanklich danke ich Gott für meinen Alltag und mein Leben.»

AUSLEGUNG: «OH LAND, LAND, LAND, HÖRE DES HERRN WORT» (JER 22,29)

Dieser Ruf des Propheten Jeremia ist auch auf der Kirchenglocke in Weinfelden zu finden. Damit steht er doppelt über der Region und ruft zur Umkehr zu Gott auf. Gott hatte Jeremia beauftragt, den König von Juda und sein Volk zur Umkehr zu bewegen. Sie kannten Gottes Gebote, aber sie wollten nicht danach handeln – gemäss dem Motto: Ich höre und beachte nur die Worte, die das beschreiben, was ich denke und was mir passt.

Die Kirchenglocken rufen auch heute dazu auf, auf Gott zu hören: «Oh Thurgau, höre des Herrn Wort!»

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