Geborgen wie ein Kind
«Was heisst ‹geborgen›?», fragte mich meine fünfjährige Tochter, als ich vor dem Einschlafen das Taizé-Lied «Bei Gott bin ich geborgen, still wie ein Kind» anstimmte. Aus meiner eigenen Kindheit habe ich Bilder im Kopf, die in mir das Gefühl von Geborgenheit auslösen: meine Mutter, die mir Essigsocken wickelt. Die grosse Schwester, die mich in den Arm nimmt bei meinem ersten Liebeskummer. Die ganze Familie am warmen Küchentisch bei «Chnöpfli und Rahmgulasch», während es draussen schneit und stürmt.
«Sei mir ein sicheres Zuhause, wohin ich jederzeit kommen kann.» (Ps 71,3)
«Sei mir ein sicheres Zuhause, wohin ich jederzeit kommen kann.» Diese Psalmworte bringen auf den Punkt, was Geborgenheit ist: ein sicheres Zuhause. Ein Ort, an dem ich willkommen bin, jederzeit. Unabhängig davon, wie es mir geht. Unabhängig davon, was ich angestellt habe.
«Bleiben Sie zu Hause!»
In den letzten Monaten haben die eigenen vier Wände eine neue Bedeutung bekommen. Wie fürsorgliche Eltern verordneten uns die Bundesrätinnen und Bundesräte Hausarrest. In der Schweiz, meinem Vater- und Mutterland, fühlte ich mich in diesen Wochen gut aufgehoben. Für mich war es eine berührende Erfahrung, zu merken: Ich lebe in einem sicheren Land und bin von guten Menschen umgeben. Ich habe ein sicheres Zuhause, wohin ich jederzeit zurückkehren kann. Die Kehrseite dieser Geborgenheit ist, dass in dieser Krisenzeit mehr denn je klar wird, wie wenig selbstverständlich es ist, ein sicheres Zuhause zu haben. Zu Hause bleiben kann, wer ein Zuhause hat. Wer aber auf der Stras–se lebt, auf der Flucht ist, kein Asyl hat oder zu Hause missbraucht und unterdrückt wird, ist Gefahren hilflos ausgesetzt.
Wo es mir gut geht, ist meine Heimat
Als Kirche ist es uns ein Anliegen, Menschen dabei zu unterstützen, Heimat zu finden. «Ubi bene, ibi patria» – wo es mir gut geht, ist meine Heimat. Dieses lateinische Sprichwort zeigt, dass es nicht allein eine geografische Frage ist, wo Menschen Heimat finden. Eine Heimat ohne Geborgenheit ist kein sicherer Ort. «Bei Gott bin ich geborgen, still wie ein Kind.» Meine persönliche Suche nach Gott ist eng verbunden mit der Frage, wo mein sicheres Zuhause ist. Und mit der Sehnsucht, dieses sichere Zuhause auch anderen Menschen zu ermöglichen.
Text: Kathrin Bolt, Pfarrerin, Straubenzell | Foto: epd-bild / Rainer Oettel – Kirchenbote SG, Juli-August 2020
Geborgen wie ein Kind