News aus dem Thurgau

Geboren als Feind der Republik

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26.08.2019
Pfarrer Rolf-­Joachim Erler sass in der DDR in Haft. Von ­Geburt an galt er dem SED-Regime als suspekt. Der Weg zur Freiheit des Westens führte ihn in die Schweiz.

Rolf-Joachim Erler bückt sich und zieht einen der Aktenordner aus dem Bücherschrank. Dann schlägt er den Deckel auf, blättert sich durch die vergilbten Briefe, streicht eine Seite glatt und liest: «Seine Informationen bezog Erler fast ausschliesslich aus Kommunikationsmitteln der westlichen Welt. So sagte er von sich selbst, aktiver Hörer des Deutschlandfunks, sowie des Radio Wien und Stockholm zu sein.» 

Erler blickt auf: «Sehen Sie, solchen Schrott haben die über mich gesammelt.» Der Pfarrer liest weiter: «Hinsichtlich seiner politischen Einstellung muss Erler als ein potenzieller Gegner der sozialistischen Gesellschaftsordnung, also als ein Gegner der DDR eingeschätzt werden.» Erlers Stimme bebt leicht, als er das Gelesene widerholt. Dann blättert er weiter. Feinsäuberlich hat Erler alle Dokumente, Briefe, Eingaben und Urteile in den vielen Ordnern abgeheftet, sie sollen Zeugnis sein, für das Schicksal von Tausenden politischen Gefangenen in der DDR. 

«Gegner der DDR.» Die Beurteilung des Stasi-Mitarbeiters mit dem Decknamen «Optik» bringt Rolf-Joachim Erlers Leidensgeschichte auf den Punkt. Geboren 1949, kurz vor der Gründung des Bauern- und Arbeiterstaates, wuchs Erler bei den seinen Grosseltern und später im Internat der Herrnhuter auf. Nach der gescheiterten Republikflucht 1973 landet er als politischer Häftling der SED-Staatssicherheit in den Zuchthäusern Gera und Cottbus. Schliesslich kauft die Bundesrepublik ihn 1975 mit Devisen frei. Erler kommt in den Westen, studiert Theologie und wird Pfarrer. 

Fast dreissig Jahre lang ist er Pfarrer in Zürich-Seebach. Die Schweiz wird ihm zur Heimat. Nach seiner Pensionierung zieht Rolf-Joachim Erler nach Berlin. Vor einem Jahr hat er ein Buch über seine Jugenderlebnisse in der DDR geschrieben, das unter dem Titel «Freiheit, die ich meine: Flagge zeigen» erschienen ist. Eigentlich fühle er sich in Berlin fremd, sagt er. «Mein Zuhause ist das nicht, mein Zuhause ist Zürich. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine See-bacher denke», sagt der gebürtige Deutsche.

Heute lebt Erler in einem gutbürgerlichen Quartier in der Nähe des Kurfürstendamms. Die Jugendstil-Wohnung ist weitläufig. Tagelang hat Erler die Weinblätter und Trauben an der Stuckdecke mit einem winzigen Pinsel golden bemalt. «Dafür konnte ich mir keinen Handwerker leisten», sagt er, «das wäre zu teuer gekommen.» Die Schweizerfahne, die über dem Tisch weht, und der tiefblaue Enzian vor dem Matterhorn auf dem Tischset zeugen von Erlers Heimweh.

 

Rolf-Joachim Erler, als die Berliner Mauer fiel, waren Sie Pfarrer in der Schweiz. Wie erlebten Sie diesen historischen Moment?

Ich hatte damals viele Abdankungen. Nachts verfolgte ich die Ereignisse am Fernseher. In diesen Wochen habe ich kaum geschlafen, es war so aufregend. Niemand hätte gedacht, dass die Mauer fallen wird.

Sie auch nicht?

Nein, selbst Historiker hatten dies nicht erwartet.

Welche Gefühle hatten Sie damals?

Das kann man nicht beschreiben. Ich sah im Fernsehen, wie die Leute durch die Grenzübergänge rannten, Autos hupten und die Menschen jubelten und weinten. Man kann dies nur mit dem Wort «Wahnsinn» beschreiben.

War der Mauerfall für Sie als ehemaliger DDR-Häftling eine Genugtuung?

Nein, ich war total überrascht und erfreut, dass das Leid an der Mauer nun aufhören wird. Die Grenze zwischen den beiden Deutschland war ja ein Todeswall, an dem Menschen ermordet wurden. 

Sie wurden überwacht, als politischer Gefangener eingesperrt. Haben Sie eine Abfindung erhalten?

Ja, die war unbedeutend. Fragen Sie mich nicht nach der Summe.

Hat sich jemand bei Ihnen für das Unrecht entschuldigt?

Nein, nie. Ich habe mehrmals versucht auf die Stasi zuzugehen. Doch sie reagierten nicht, sie wollten mit ihrer Vergangenheit nichts zu tun haben. Vor kurzem suchte ich Kontakt zu einem ehemaligen Wärter, der mich im Zuchthaus schikaniert hat. Er will nichts davon wissen, sie wollen alle nicht.

Haben diese Leute keine Skrupel?

Scheinbar nicht, sie zeigten keine Reue. Da gibt es Parallelen zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Die DDR nannte sich stets einen antifaschistischen Staat. Doch die junge Republik übernahm viele der Nazis in ihren Dienst. Ohne diese hätte die DDR ihren Staatssicherheitsdienst nicht aufbauen können. Wenn ich als Kind mit meinem Grossvater, der Sozialdemokrat war, durch Dresden spazierte, zeigte er auf Einzelne und sagte, der da hat mich bei den Nazis denunziert. 

Sie wurden von Bekannten aus Ihrem Umfeld bespitzelt?

Da bildete ich keine Ausnahme. Man schätzt, dass es in der DDR zwischen 150 000 bis 170 000 IM (Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi) gab, deren Aufgabe es war, Leute aus ihrem beruflichen, gesellschaftlichen Umfeld und ihrer Familie zu bespitzeln. Akribisch hielten sie fest, welche Beziehungen man in den Westen hatte, wie man zur DDR stand oder welche Sender man hörte und sah. Kontakte zur Kirche waren suspekt.

So wie bei Ihnen, der in einem I-nternat einer Herrnhuter Brüdergemeine aufwuchs.

Auf mich waren mehrere IM angesetzt. Selbst im Westen wurde ich die Spitzel nicht los. Die haben aus Westdeutschland und Zürich über mich berichtet.

Wer war Ihr IM in Zürich?

Sein Name in den Stasi-Akten lautete «IM-Optik». Ich wollte unbedingt Kontakt mit ihm aufnehmen und wissen, warum er dies getan hatte. Doch er war bereits verstorben.

Und warum haben die IM dies getan?

Vermutlich weil sie dafür bezahlt wurden. Bei der Stasi gab es richtige Lohnlisten für solche Dienste.

Waren auch Vertraute und Freunde unter Ihren IM?

Nein, zum Glück nicht. Aus dem Umfeld der Herrnhuter gab es keinen Einzigen, der mich verraten hat. Das war eine schöne Erfahrung, zum ersten Mal habe ich da gelernt, was Treue bedeutet. Die Brüder und Schwestern der Herrnhuter Brüdergemeine, in der ich aufwuchs, lebten zurückgezogen. Wer in Herrnhut in der Kirche war, der war nicht in der FDJ. Das war in der DDR eine Ausnahme.

Wurde Ihr Menschenbild durch die Überwachung geprägt?

Anfänglich nicht, denn die Fronten waren klar. Auf der einen Seite standen die Brüder und Schwester der Brüdergemeine, auf der anderen Seite die Staatskundelehrerin, vor der man aufpassen musste.

Und später?

In Dresden kam ich in eine andere Welt, in der ich nicht mehr geschützt war. Die Lehre als Optiker konnte ich in einem familiären Betrieb machen und glücklicherweise nicht in einem Staatsbetrieb. Trotzdem musste ich aufpassen. Meine Stasi-Akte berichtet dann auch, dass ich in meiner Wohnung Westsender gehört habe. Das reichte nicht, um mich zu verhaften. Aber ich galt als suspekt und man observierte mich.

 

Rolf-Joachim Erlers Weg in die -Opposition und ins Zuchthaus war weniger ein politischer Entscheid, er war ihm buchstäblich in die Wiege gelegt. Sein Vater ist ein in Berlin stationierter US-Soldat. Seine Mutter setzt sich 1955 aus Angst vor Denunziation in den Westen ab und lässt den Sechsjährigen bei den Grosseltern zurück. «Ich bekam das heftige Schluchzen meiner Grossmutter mit, die mal mich und mal meine Mutter umarmte», schreibt Erler später über den Abschied.

Rolf-Joachim wächst bei seinen Grosseltern auf. Er ist das Kind eines Klassenfeindes und einer Republikflüchtigen und der Enkel eines Sozialdemokraten, der mit dem SED-Regime öffentlich hadert. Als er acht Jahre alt ist, zeigt die Lehrerin auf ihn und erklärt der Klasse: «Schaut den Rolf Erler an, sein Vater ist ein feindlicher Agent unserer friedliebenden Republik, und seine Mutter hat unsere Republik verraten.»

Aus Angst, dass ihr Enkel in ein staatliches Kinderheim eingewiesen wird, schicken die Grosseltern Rolf-Joachim in ein Internat der Herrnhuter. Hier in der pietistischen Brüdergemeine ist er weitgehend frei. Er kann sagen, was er will, er hört die Hitparade auf Radio Luxemburg, liest das «Bravo», das über die Grenze geschmuggelt wurde und durch unzählige Hände ging, und träumt von einer Levis-Jeans. Seine Schulzeit kann Erler wegen seiner -Herkunft nicht mit einem Abitur abschliessen, der Weg zum Studium bleibt ihm verwehrt. Erler entschliesst sich zur Lehre als Augenoptiker und zieht nach Dresden. Dann kommt das Schicksalsjahr
1968 und der «Prager Frühling».  Erler ist begeistert vom Aufbruch. Er fährt fast jedes Wochenende nach Prag und fühlt sich im Westen, wenn er mit den Leuten auf dem Wenzelsplatz frei reden kann. Doch der Traum ist kurz. Die sozialistischen Bruderstaaten schlagen die friedliche Demokratiebewegung nieder, Erler jedoch gibt nicht auf. Er tritt in die Ost-CDU ein und will Opposition machen. Ziel -seines Kampfes sind die Panzer und Soldaten in den Spielwarengeschäften. Mit anderen fordert er, dass man das Kriegsspielzeug aus den Schaufenstern räumt. Vergebens. Seine Karriere in der Ost-CDU nimmt ein jähes Ende.

Rolf-Joachim Erler weiss nun, dass er in der DDR keine Zukunft hat. Er ist verzweifelt und sieht den Ausweg nur im Westen. Er entschliesst sich zur Flucht durch den Eisernen Vorhang. 1973 fährt er von Dresden nach Berlin, wo er seine Kontaktperson trifft. Einen Tag später triff er seinen Fluchthelfer in einem Schnellimbiss an einer Transitstrecke. Er steigt in den Kofferraum des Wagens, der ihn in die Freiheit bringen soll.

 

Was ist der Grund, dass Sie sich nicht mit dem Bauern- und Arbeiterstaat arrangieren konnten? Waren Sie besonders mutig.

Nein, ich würde das nicht als Mut beschreiben. Aufgrund meiner biografischen Geschichte konnte ich nicht anders. Ich war ein Fremdkörper im SED-Regime. Es gab für mich keine Möglichkeit, mich in der DDR zu etablieren. Hinzu kam, dass mir mein Grossvater schon als Kind erklärte, dass Stalin nicht der friedliebende Völkerfürst war, wie ihn die Propaganda darstellte. Er war ein Verbrecher, der Millionen umbrachte. Stalin ging es nur um die Macht und die Vernichtung der Gegner, das wusste ich schon als Kind.

Im Gegensatz zu Ihnen haben viele andere mitgemacht.

Ja, die sind mitgelaufen, etwa an den Grossaufmärschen und haben «Hoch, hoch, hoch Erich Honecker» geschrien. Millionen waren in der Freien Deutschen Jugend FDJ, in der Nationalen Volks-armee und bei den Thälmann-Pionieren. Nach der Wende waren sie alle verschwunden. Ich ärgere mich besonders über all die Mitläufer, die nun sagen, sie seien immer dagegen gewesen, aber sie hätten sich ja nicht äussern können. Natürlich konnte man, man musste nicht der FDJ bei-treten. Aber das hätte einen die Karriere gekostet. 

Ist Widerstand zu leisten, Christen--
pflicht?

Ich würde mein Verhalten nicht Widerstand nennen. Ich habe mich verweigert, in dem Regime mitzumachen.

Ihre Verweigerung war Sand im Getriebe des Systems. Deshalb waren Sie gefährlich.

Bei Widerstand denke ich an die Verschwörer vom 20. Juni, die versucht haben, Hitler zu töten. Sie wurden für ihre Tapferkeit hingerichtet. Ich sehe mich nicht auf dieser Ebene, das wäre anmas-send. Dazu habe ich zu viel Respekt vor Dietrich Bonhoeffer. Im Gefängnis habe ich viel an ihn gedacht. Bonhoeffer wurde für mich zur Stütze.

Inwiefern?

Bonhoeffer war mir ein Vorbild. Wenn es mir dreckig ging, dachte ich, er hatte es doch viel schlimmer als ich. Im Gefängnis las ich seine Briefe. Ich habe sie verschlungen. Sie trösteten mich und gaben mir Orientierung. Bonhoeffer beschreibt in «Widerstand und Ergebung», wie das Zuchthaus während eines Bombenangriffs getroffen wurde. Einer der Insassen jammerte, jetzt müssen wir sterben. «Ach komm, halte durch, es ist jetzt gleich vorbei», sagte Bonhoeffer zu ihm. Für mich war seine Aussage wie ein Gebet, das mir Mut zusprach. An einem der zahlreichen Gedenktage mussten wir an der Wand des langen Zuchthausganges stehen, mit erhobenen Armen, die immer schwerer wurden – dies eine gefühlte Ewigkeit lang. Nervös rannten die Wärter mit den Maschinenpistolen und Hunden auf und ab und brüllten uns an. Meine Haftkameraden befürchteten, man werde uns jetzt erschiessen. Da dachte ich an Bonhoeffer, dachte daran, dass es ganz schnell gehen wird, sodass ich es gar nicht merke. So hatte mir Bonhoeffer geholfen.

Sie hatten aber auch Angst?

Natürlich. Später las ich bei der Theologin Dorothee Sölle, dass man sich vor einem Menschen, der keine Angst hat, fürchten müsse, denn er sei zu allem fähig. Der Satz hat mich beeindruckt. 

Warum?

Wer seine Angst wahrnimmt, hat die Möglichkeit, nicht feige zu werden. Er kann sich seinen Ängsten stellen. Derjenige, der sie verdrängt, wird von ihr beherrscht und schliesslich scheitern. Er nimmt sich die Chance, aus Angst kreativ zu werden. Angst kann schöpferisch wirken, Feigheit nicht.

 

Die Klappe des Kofferraums wird aufgerissen, grelles Licht blendet Erler. «Steigen Se aus! Wenn Se hier abhau’n, kriegen Se ä Gügelchen durch de Lunge», bellt ihn ein DDR-Grenzpolizist auf sächsisch an, die Maschinenpistole im Anschlag. Erlers Flucht ist am 6. Oktober 1973 am Grenzübergang Marienborn gescheitert – und damit sein Traum vom freien Leben. Er wird verhaftet und stundenlang von der Stasi vernommen und unter Druck gesetzt. Sie wollen die Namen der Komplizen und Hintermänner wissen und wollen, dass er als Spitzel kooperiert. Ohne Erfolg. Verhör folgt auf Verhör. Erler bleibt trotzig, trotzdem hat er Angst einzuknicken und unter dem Druck andere zu verraten.

Rolf-Joachim Erler wird der Prozess gemacht. Er wird wegen Republikflucht für mehr als zwei Jahre ins Zuchthaus Cottbus gesteckt. Er lebt in überfüllten Zellen, das Wachpersonal schikaniert und demütigt die Häftlinge, unter denen es Studenten, Ärzte, Lehrer, Theologen und Künstler hat. Das Essen und die sanitären Bedingungen sind prekär. Für die sechzig Gefangenen stehen sechs Kübel für die Notdurft bereit. Erler geniert sich, sein Geschäft am helllichten Tag zu verrichten. Er wartet, bis die anderen nachts schlafen. 

Um nicht ganz zu resignieren, veranstalten die Häftlinge am Samstagabend ihr «Wort zum Sonntag». Beim Schein einer aus Margarine gebastelten Kerze halten sie Andacht. Wegen seiner Herrnhuter Herkunft fordern die Kameraden Erler immer häufiger auf, die Andacht zu übernehmen. 

Erler erhält ab und zu Besuch einer befreundeten Pfarrerin. Inge wird für ihn zum Kontakt nach aussen. Und er schreibt Briefe an seine Tanten in der Schweiz. Heute weiss er, dass er es den Herrnhutern, der Moravian Church in den USA sowie Angehörigen in der Schweiz zu verdanken hat, dass man ihn im Westen nicht vergisst. Der Druck auf das DDR-Regime in Sachen Erler bleibt. Am 11. November 1975 kommt er frei und wird nach Westdeutschland gebracht.

 

Apropos Mut, dürfte die Kirche heute etwas mutiger sein?

Ja, die Kirche soll deutlicher Stellung beziehen, heute ist sie zu diplomatisch. Sie soll Themen ansprechen, selbst wenn dies Widerspruch gibt. Das muss die Kirche riskieren. Wenn sie nur ausgewogen und diplomatisch ist, dann hört ihr niemand mehr zu. Sie muss bereit sein, Salz in der Gesellschaft zu sein.

Bei welchen Themen sollte die Kirche ihre Stimme erheben?

Da, wo soziales Unrecht geschieht. In Deutschland beispielsweise bei Hartz IV. Die Betroffenen müssen mit monatlich 492 Euro auskommen. Das ist zu wenig und reicht knapp zum Überleben. Ich musste letzthin an eine Beerdigung eines lieben Menschen reisen. Mit monatlich 492 Euro kannst du nicht zu der Abdankung eines Verwandten in einem anderen Bundesland reisen, dazu reicht es nicht. Wer von Hartz IV leben muss, steht sozial im Abseits. Die Kirche kann dazu nicht schweigen, denn es geht um ein Anliegen des Evangeliums, es geht um benachteiligte Menschen. Da muss sie klar und deutlich werden.

Bei der friedlichen Revolution von 1989 spielten die Kirchen der DDR eine grosse Rolle. Die Oppositionellen suchten den Schutz der Kirchen.

Ja, man schloss sich der Kirche an, da dies die einzige Möglichkeit bot, Opposition in der DDR zu betreiben. Nach der Wende verschwand diese Opposition und es gab nur die Deutsche Mark, Helmut Kohl und die CDU. Aus dem Ruf «Wir sind das Volk» wurde der Ruf «Wir sind ein Volk». Und dieses Volk wurde stark vom Westen aus gesteuert.

1989 waren viele Kirchen voll, heute sind sie oftmals leer.

Die Kommunisten haben da einen Kahlschlag hinterlassen. Die Kirchen sind heute in Ostdeutschland eine Minderheit. 

Warum gelingt es den Kirchen nicht, die Menschen in Ostdeutschland anzusprechen?

Das ist kein ostdeutsches Phänomen, sondern ein generelles in ganz Westeuropa. Ich denke, das hängt mit der Individualisierung zusammen, die man vor allem in den Städten antrifft. Wir erleben heute eine Entsolidarisierung, jeder schaut zunächst für sich. Viele fürchten sich vor der Zukunft und den gesellschaftlichen Umbrüchen. Somit schwindet das Interesse an der Kirche, die für Solidarität einsteht. Wir sehen in Berlin und Ostdeutschland jede Menge Armut. Pauschalisierungen wie «den Deutschen ging es nie so gut wie heute» ärgern mich. Richtig ist, vielen ging es noch nie so gut. Aber viele müssen schauen, wie sie über die Runde kommen.

Ostdeutschland verzeichnet eine starke AfD. Soll die Kirche mit der AfD reden?

Der Berliner Pfarrer und Politiker Heinrich Albertz sagte einmal: «Gib niemanden auf.» Er hat die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin und den Neonazi Michael Kühnen im Gefängnis besucht und mit ihnen gesprochen. Er wurde dafür massiv kritisiert. Ich denke, Albertz hat recht. Die Kirche muss sich vor dem Dialog nicht fürchten. Sie muss mit den Leuten der AfD reden, wenn nötig in aller Schärfe. Wenn die Kirche überzeugt ist, die besseren Argumente zu haben, dann werden die anderen dies hören. Es sind ja nicht nur Neonazis, die der AfD folgen. Genau diese Wählerbasis kann man erreichen und ins demokratische Lager zurückholen. Wer nur die AfD beschimpft, erreicht nichts. Ich bin überzeugt, die Kirche hat die besseren Argumente.

Wie erklären Sie das starke Aufkommen der AfD in Ostdeutschland?

Das hat verschiedene Gründe: Obschon ja die DDR die Völkerfreundschaft hochhielt, gab es keine Begegnung mit den Fremden. All die Gastarbeiter aus Vietnam, Ungarn oder dem Kongo lebten in ihren Quartieren, die Sowjetsoldaten in ihren Kasernen. Man traf sich nicht zu einem Bier. Die Ostdeutschen haben nie gelernt, mit Ausländern umzugehen. Der zweite, nicht unwichtige Grund ist, dass es in der Bevölkerung der DDR keine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gab. Bei der Gründung der DDR wurde ein Schalter umgelegt und der Staat war über Nacht antifaschistisch. Damit waren auch alle Nazis auf einmal offiziell verschwunden.In der offiziellen Geschichtsschreibung gab es nur Kommunisten, die gegen Hitler kämpften. Viele anderen Widerstandskämpfer wurden ausgeblendet. Indem die DDR sich als antifaschistisch darstellte, musste sie sich auch nicht den Mechanismen einer Diktatur stellen: Der Propaganda, den Grossaufmärschen des Volkes und dem Personenkult.

Welche Rolle spielt das wirtschaftliche Gefälle West und Ost?

Nach der Wende wurden Millionen Ostdeutsche arbeitslos. Ihre Betriebe wurden stillgelegt, während die westdeutsche Wirtschaft ihre Produkte auf dem neuen Markt vertreiben konnte. Bei all dem Guten, das die Einheit brachte, war die ökonomische Vereinigung auch ein Übergriff vom Westen auf den Osten. Das wirkt bis heute nach und prägt die Menschen. Gerade letzthin sagte mir jemand in Dresden, dass er deshalb die AfD wähle.

 

Seine Vergangenheit lässt Erler auch heute nicht los. Er hält Vorträge vor Schulklassen und Theologiestudierenden und kümmert sich um ehe-malige Häftlinge des DDR-Regimes. Er will, dass die Leute wissen, was damals in der DDR geschah. Doch der Pfarrer lebt nicht in der Vergangenheit. Er zeigt sich besorgt über den zunehmenden Antijudaismus in Berlin. Und Erler wäre nicht Erler, wenn er nicht auf der Strasse öffentlich dagegen protestieren würde, mit der Kippa auf dem Haar, der Israelfahne in der Hand, zusammen mit einer 96-jährigen Jüdin, die den Holocaust überlebt hat. Umringt von einer Schar Polizisten – nicht um ihn zu verhaften wie vor 40 Jahren, sondern um ihn zu beschützen. 

 Tilmann Zuber, Kirchenbote, 26. August 2019

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