News aus dem Thurgau
Interview mit Franziska Schutzbach

«Immer, wenn Frauen sich verbündet haben, ist mehr Freiheit für sie entstanden»

von Noemi Harnickell
min
13.06.2025
Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach setzt in ihrem neuen Buch auf Frauensolidarität gegen eine Gesellschaft, in der Machos wie Trump und Putin den Ton angeben. Der «Kirchenbote» sprach mit ihr vor dem Frauenstreiktag am 14. Juni.

Die Schweizer Geschlechterforscherin und Soziologin Franziska Schutzbach las im Basler Zwinglihaus aus ihrem neuen Buch «Revolution der Verbundenheit». In ihrem Vortrag betonte sie die Bedeutung von Solidarität unter Frauen und zeigte, wie selbst kleinste Schritte diese Revolution voranbringen. In ihrem Buch vertritt Schutzbach die These, dass weibliche Solidarität patriarchale Strukturen im Alltag und in der Politik durchbrechen kann. Sie unterstreicht, dass Frauen durch gegenseitige Unterstützung und politische Schwesternschaft gesellschaftliche Veränderungen anstossen. Mit Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart verdeutlicht sie, wie Frauen trotz Unterschiede durch ihre Beziehungen Revolutionen ermöglichten. Der «Kirchenbote» sprach mit Franziska Schutzbach im Vorfeld des Frauenstreiktags am 14. Juni.

Mit «Revolution der Verbundenheit» haben Sie ein mitunter hoffnungsvolles Buch geschaffen. Hätten Sie es als junge Frau selbst gern gelesen?

Tatsächlich brauche ich dieses Buch erst jetzt als Frau im mittleren Alter. Als junge Frau war ich sehr kämpferisch und voller Hoffnung. Gerade erlebe ich eine Zeit der grossen Ernüchterung. Das liegt einerseits an den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Umständen, hat aber andererseits auch mit dem Alter zu tun.

Inwiefern?

Wenn man älter wird, legt man eine gewisse Naivität ab. Der eigene Blick auf die Welt wird komplexer. Das beobachte ich auch bei meinen Weggefährtinnen: Was heisst es, mit über vierzig noch eine aktivistische Identität zu haben? Ein Buch, das ganz grundlegend die Frage von Solidarität und Beziehung unter Frauen stellt, ist sowohl für mein Alter als auch für die aktuelle Zeit sehr relevant.

Wir verhalten uns oft selbst sexistisch. Wir bewerten andere Frauen anhand von patriarchalen Kriterien, teilen sie in schön und hässlich, in gute und schlechte Mütter ein.

Ist dieser Wandel auch auf die Rolle der Frau in der Familie zurückzuführen? Je älter die Kinder sind, desto mehr Freiheiten hat eine Frau – oder?

Gerade Mütter mit kleinen Kindern, das wissen wir aus der soziologischen Forschung, haben für Freundschaften wenig Zeit. Vor allem, wenn sie alles gleichzeitig unter einen Hut bringen müssen: Berufstätigkeit, Beziehungsarbeit, Familie, Ehrenamt – viele Beziehungen werden sehr funktionalistisch geführt, denn sie müssen einem helfen, durch den Alltag zu kommen. Gerade in der Schweiz, wo die Kinderbetreuung schlecht organisiert und viel zu teuer ist, springen Grossmütter und Freundinnen ein. Das alles reduziert die Beziehungen stark auf Nützlichkeit und Rückverpflichtung. Diese Beziehungen unterstützen Frauen zwar in der Bewältigung des Alltags und ermöglichen so Freiheit – sie retraditionalisieren Frauen aber auch. Wenn die Kinder erwachsen werden, haben viele Mütter zum ersten Mal überhaupt mal wieder Zeit, um Freundschaften um ihrer selbst willen zu pflegen.

Oft scheitern Beziehungen unter Frauen auch an Eifersucht und Machtspielen. Stimmt dieser Eindruck?

Frauenbeziehungen sind nicht immer nur toll und harmonisch. Es gibt ein patriarchales Interesse daran, die Frauen zu spalten. So verhalten wir uns oft selbst sexistisch. Wir bewerten andere Frauen anhand von patriarchalen Kriterien, teilen sie in schön und hässlich, in gute und schlechte Mütter ein. Unser eigenes Bewertungssystem ist oft alles andere als feministisch.

Wenn wir den Blick nicht nur auf die Spaltung legen, finden wir ganz viele Beispiele gelingender Frauenbeziehungen.

Ihr Buch zeigt, dass es auch andere Geschichten gibt.

Es wäre sehr einseitig, nur auf die Spaltung zu schauen, denn trotz dieser schlechten Ausgangslage ist es Frauen immer wieder erfolgreich gelungen, sich zu verbünden. Wir sehen das in Frauenbewegungen, die über Jahrzehnte gemeinsam für politische Ziele kämpfen – aber auch im Privaten. Es gibt unzählige Beispiele von Freundschaften, von Liebesbeziehungen, von Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, in denen Frauen sich gegenseitig stärken und Freiheit ermöglichen. Es gibt eine lange Geschichte der Solidarität unter Frauen. Sie hat uns überhaupt erst dahin gebracht, wo wir heute stehen. Immer, wenn Frauen sich verbündet haben, ist mehr Freiheit für sie entstanden.

Liegt darin das Revolutionäre an Frauengemeinschaften?

Wir sehen, Solidarität zwischen Frauen ist nicht selbstverständlich. Dabei ist die Geschlechterrevolution eine der grössten Revolutionen der Menschheitsgeschichte – nur ist sie eben oft eher still vorangegangen. Frauen haben in der Alltagspraxis Dinge verändert und in jahrzehntelanger Bündnisarbeit ihre Ziele vorangetrieben. Wenn wir den Blick nicht nur auf die Spaltung legen, finden wir ganz viele Beispiele gelingender Frauenbeziehungen.

 

«Revolution der Verbundenheit – Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert», Franziska Schutzbach, Droemer Verlag.

 

Wem dient diese Spaltung?

In der traditionellen Rolle soll sich die Frau für die Familie aufopfern, ihre Identität verschmilzt darin. Es ist nicht vorgesehen, dass sich Frauen einander zuwenden und sich gegenseitig Freiheit ermöglichen. Sie sollen Fürsorgearbeit leisten und die Hausarbeit machen, damit andere sich von der harten Welt erholen können.

It’s a man’s world?

Ja. Die meisten Machtpositionen sind bis heute von Männern besetzt. Wenn Frauen irgendetwas erreichen wollen, sind sie gezwungen, sich an Männern zu orientieren und sich mit ihnen gut zu stellen. Auch finanziell sind Frauen noch immer häufig abhängig von ihren Ehemännern. Sie können sich zum Beispiel oft nicht einfach von ihnen trennen, selbst wenn sie es wollen oder die Beziehung für sie gefährlich ist. Das Armutsrisiko ist einfach zu gross. Frauen werden also auf Männerorientierung hin konditioniert und nicht auf Frauenverbündung.

Der Frauenstreiktag im Juni ist ein wichtiges Ereignis fĂĽr feministische Belange. Wie wichtig ist es, dass alle Frauen dabei sind?

Die Strasse ist nur eine Möglichkeit von vielen, sich einzusetzen. Aber wir müssen uns im Klaren sein, dass es symbolisch wichtig ist, Raum einzunehmen. Das ist etwas, was für die Frauenrolle nicht vorgesehen ist: viel Raum einnehmen und sehr laut sein – und sich auch mal gegen Mehrheitsmeinungen stellen.

Wenn Fraueninteressen durchgesetzt werden, müssen Männer auch etwas abgeben – Privilegien, Ressourcen, Macht. Was Frauen wollen, ist nicht harmlos.

Die Schweiz hinkt in feministischen Belangen oft anderen Ländern hinterher, was man zum Beispiel an der späten Einführung des Frauenstimmrechts sehen kann. Woran liegt das?

Die schweizerische Mentalität ist auf Harmonie ausgerichtet. In Krisenzeiten war die Schweiz ein Ausnahmeland, umringt von Gefahrenzonen. Um dies heil zu überstehen, galt der gesellschaftliche Zusammenhalt als sehr wichtig. Frauen, die laut ihre Rechte einforderten, wurden gemassregelt: Das gefährde die geistige Landesverteidigung! Das ist bis heute so tief in der Frauen-DNA verwurzelt, die Angst vor dem Vorwurf: Ihr seid Landesverräterinnen, wenn ihr Rechte fordert!

Tatsächlich führen aber Forderungen von Frauen auch zu Spaltungen.

Natürlich tun sie das. Fraueninteressen stehen auf den ersten Blick oft im Konflikt zu dem, was Männer wollen. Diesen Konflikt kann man nicht schönreden. Wenn Fraueninteressen durchgesetzt werden, müssen Männer auch etwas abgeben – Privilegien, Ressourcen, Macht. Was Frauen wollen, ist nicht harmlos. Wenn die Care-Arbeit zum Beispiel gleich verteilt und angemessen bezahlt werden soll – nämlich so wie die eines Durchschnittsmanagers, denn sie ist genauso systemrelevant wie der Finanzmarkt oder die Herstellung von Autoteilen –, dann bedeutet das eine massive Umverteilung von Ressourcen. Aber langfristig kommen feministische Anliegen auch Männern zugute.

Machos beherrschen die politische BĂĽhne, Podcasts verleiten zu Frauenhass. Dreht sich die Zeit zurĂĽck?

Wir erleben eine Zeit der Mehrfachkrisen: Kriege, Rechtsrutsch, Ökologiekrise, zunehmende Gewalt gegen Frauen. Zugleich gibt es ein Bewusstsein für Themen, das vor zehn Jahren noch nicht vorhanden war. So geben sich viele Menschen Mühe, die richtigen Pronomen für Nemo zu verwenden. Es ist eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Stillstand, Rückschritt und Fortschritt. Auch das Bewusstsein für die Gewalt gegen Frauen ist gestiegen, dank mutiger Frauen wie Gisèle Pelicot.

Welche Rolle spielt die Kirche dabei?

Die Kirchengeschichte zeigt, dass Frauen sich im Kloster ein von Männern weitgehend unabhängiges Leben ermöglicht haben. Auch innerhalb der Kirchen gibt es viele progressive Frauenorganisationen, die sehr viel bewirken und durch ihr gemeinsames solidarisches Handeln Dinge bewegen. Allerdings ist auch die patriarchale Ordnung innerhalb der Kirchen noch immer sehr wirksam, und Frauen werden oft auf Gratis-Care-Arbeit reduziert. Da gibt es noch viel zu tun.

 

Franziska Schutzbach wurde 1978 in Würzburg (D) geboren und wuchs in Biel (CH) auf. 2019 promovierte sie an der Universität Basel mit einer Dissertation zum Thema der reproduktiven Gesundheit, Bevölkerung und Geschlecht. Sie arbeitet unter anderem als Autorin und feministische Aktivistin und unterrichtet an verschiedenen Universitäten. Schutzbach ist Mitglied der Gleichstellungskommission Basel-Stadt.

Der Vortrag von Franziska Schutzbach im Zwinglihaus wurde organisiert von der Fachstelle Bildung und Diversität der reformierten Kirche Baselland in Zusammenarbeit mit dem Forum für Zeitfragen der Evangelisch-Reformierten Kirche Basel-Stadt.

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