News aus dem Thurgau
Jubiläum im Zeichen der «Ehrfurcht vor dem Leben»

Protestieren, weil Gott «ja» gesagt hat

von pd/ Ernst Ritzi
min
21.06.2025
100 Jahre Schweizerischer Protestantischer Verein SPV: Die Thurgauer Kirchenratspräsidentin Christina Aus der Au präsentierte drei Thesen zur Zukunft des Protestantismus.

Der Schweizerische Protestantische Verein (vormals: Volksbund) SPV hat am vergangenen Sonntag, 15. Juni 2025. in Frauenfeld sein 100-Jahr-Jubiläum gefeiert. Eröffnet würde die Jubiläumsfeier mit einem Festgottesdienst in der evangelischen Kirche St. Johann im Kurzdorf in Frauenfeld.

Sich für die Ehrfurcht vor dem Leben einsetzen

Als Thema des Jubiläums hatte der SPV eine Aussage des deutschen Theologen, Pfarrers, Kirchenlieddichters und Politikers Christoph Blumhardt gewählt, der die Christinnen und Christen einmal als «Protestleute gegen den Tod» bezeichnet hat. In seiner Predigt im Festgottesdienst bezog sich der ehemalige Thurgauer Kirchenratspräsident Pfarrer Wilfried Bührer auf das Wort aus dem Timotheusbrief: «Vielleicht gibt ihnen Gott die Möglichkeit ihr Leben zu ändern.» Er ermutigte dazu, lebensfeindliche Umstände beim Namen zu nennen und sich für die Ehrfurcht vor dem Leben einzusetzen. Der SPV habe sich in seinem Engagement an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und stets auch das «Pro» des Wortes «Protestantismus» im Auge gehabt.

Einblick in die Bauernschulung des SPV

Im Anschluss an den Gottesdienst ging SPV-Präsident Pfarrer Richard Kölliker in einem historischen Rückblick auf die wesentlichen Elemente des Wirkens und der Tätigkeit des Volksbundes ein: Zeugnis, Innovation und Bildung. Am konkreten Beispiel gab der Thurgauer Theologiestudierende Florian Aeberhardt in einem Kurzvortrag einen Einblick in die Bauernschulung, die der SPV nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die frühen 70er-Jahre mit beachtlicher Resonanz angeboten hat.

Vortrag mit anschliessender Podiumsdiskussion

Am Nachmittag des Jubiläums setzte sich SPV mit der Zukunft des Protestantismus auseinander. Als Grundlage für die anschliessende Podiumsdiskussion formulierte die Thurgauer Kirchenratspräsidentin und Theologin Christina Aus der Au drei Thesen zum Wesen des Protestantismus.

Gegen alle Absolutheitsansprüche

Als erstes Merkmal formulierte Aus der Au den Protest gegen alle Absolutheitsansprüche, auch gegen eigene Verabsolutierungen. «Konkret heisst das, dass wir gegen Absolutsetzung von bestimmten Frömmigkeitsstilen und gegen die Einengung auf eine bestimmte Art des Bibellesens und des Glaubens protestieren.» Der deutsche Theologe Paul Tillich hatte «Fundamentalismus» einmal so beschrieben: «Er versagt vor der Gegenwart, weil er etwas Zeitbedingtes und Vorübergehendes zu etwas Zeitlosem und ewig Gültigem macht. Er hat in dieser Hinsicht dämonische Züge.» Die reformierte Tradition geht davon aus, dass die Kirche im ständigen Wandel begriffen und alle ihre Erscheinungsformen als «vorläufig» zu betrachten sind. Indem die Thurgauer Kirche die Vielfalt ihrer Angebote benenne und auch feiere, schaffe sie einen weiten Raum.

Gegen jegliche Vereinnahmung

Seit jeher hätten sich die Protestantinnen und Protestanten gegen jegliche Vereinnahmung durch fremde Mächte gewandt. In einer Zeit, in der die Kirche an gesellschaftlicher Bedeutung verliere, sei sie in der Versuchung, sich der «Gesellschaft anzudienen» und ihre «Unverzichtbarkeit» hervorzuheben. Es treffe, so Christina Aus der Au, zwar zu, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von ethischen und moralischen Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Wenn aber die Kirche ihrerseits davon leben wolle, dass sie diese Voraussetzungen «liefere», um ihre Privilegien zu behalten, verliere die Kirche «ihre Seele».

Im Gewissen an das Wort Gottes gebunden

Reduziere die Kirche sich selbst auf die Leistungen, die sie für die Gesellschaft erbringt, gehe das «Pro», das «Ja», das «Nein» des Protests vorausgehe, vergessen: «Die Fürsten am Reichstag zu Speyer protestierten nicht einfach aus einer Lust und Laune heraus, sondern weil sie ihr Gewissen an das Wort Gottes gebunden sahen, ebenso wie sich die Reformatoren sich nicht einfach so mit der katholischen Kirche anlegten, sondern aus der tiefen Überzeugung, dass Christus allein genügt.» Der Theologe Paul Tillich hatte «die reale Gegenwart von Christus unter dem Menschen und in der Welt» als «katholische Substanz» bezeichnet. Für die Zukunft des Protestantismus stellte Christina Aus der Au deshalb die Frage in den Raum: «Haben wir als protestantische (reformierte) Kirche noch genug «katholische Substanz», damit wir überzeugend und wirkmächtig protestieren können?»

Gegen die Privatisierung des Glaubens

Wenn sich Protestantinnen und Protestanten sich durch fremde Mächte vereinnahmen lassen, dürfte das – so Christina Aus der Au – in ihrer dritten These nicht dazu führen, sich auf die reine Innerlichkeit zu beschränken. Der christliche Glauben dürfe nicht «privatisiert» werden. Ausgangspunkt des Protests sei das «Ja» Gottes: «Die christliche Freiheit ist nicht nur eine negative Freiheit von fremden Mächten und Gewalten, sondern eine positive Freiheit zur Lebensgestaltung im Licht des Reiches Gottes.» Als jüngstes Beispiel erwähnte Christina Aus der Au den öffentlichen Aufruf zur «Verteidigung demokratischer Kultur», der weltweit von vielen Christinnen und Christen unterzeichnet wurde. Im konkreten Fall liege es in der Natur der Sache, dass Christinnen und Christen nicht immer gleicher Meinung seien. Diskutieren könne man nur, wenn Menschen sich in einer Sache engagieren und exponieren würden und wenn die Kirche sich herausgefordert wisse, von dem, was in der Welt geschehe, weil Gott in diese Welt gekommen sei. Den Protestmechanismus beschrieb Christina Aus der Au zum Abschluss ihres Impulsreferats so: «Wenn Menschen handeln, weil sie sagen, ich kann nicht anders. Und andere widersprechen und sagen, doch, ich kann anders. Protestantischer Protest geht in beide Richtungen, Was nicht geht ist Gleichgültigkeit.

Gespräch zu Impulsen für das kirchliche Leben

Die Impulse, die Christina Aus der Au gegeben hatte, wurden im anschliessenden Podiumsgespräch aufgenommen. In den dargestellten neuen Formen des kirchlichen Lebens war ein roter Faden zu erkennen: Menschen begegnen sich an Orten, die auf den ersten Blick nicht nach Kirche aussehen, finden Berührungspunkte in ihrer Lebenswelt und es steht ihnen die Möglichkeit offen, Spuren des göttlichen Wirkens zu ergründen. Der Gedanke «der katholischen Substanz» findet in der Diskussion Resonanz und lädt die Besucherinnen und Besucher und das Geburtstagskind SPV zum Weiterdenken ein.

Am Gespräch haben teilgenommen:

- Thomas Bachofner, Leiter tecum, Kartause Ittingen
- Galina Angelova, Green City Spirit, Zürich
- «Innokon» (Diakon für Innovation) Marcel Grob, Zürich-Hirzenbach
- Christina Aus der Au, Präsidentin des Thurgauer Kirchenrates
- Ernst Ritzi, Vorstandsmitglied des SPV

Geleitet wurde das Gespräch von Christian Kaiser, ehemaliger Redaktor bei «reformiert.»

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