Pfarrer Johann Heinrich Lavater (1652 bis 1731) galt als «Aufklärer und sozialer Denker», wie auf der Webseite der Evangelischen Kirchgemeinde Gachnang zu lesen ist. Von 1635 bis 1744 prägten drei Lavater-Generationen das evangelische Pfarramt wie kaum eine andere Familie an einem anderen Ort: Vater, Sohn und Enkel wirkten als Pfarrer.
Stillstehen, bis alle gegangen sind
Der bedeutendste von ihnen war Johann Heinrich Lavater, der die Gemeinde von 1677 bis 1725 leitete. Er führte in Gachnang als erster Kirchgemeinde im Thurgau den sogenannten Stillstand ein, ein kirchliches Gremium, das beim Ehegericht, der Armenfürsorge und der Ordnung in der Gemeinde führend war.
Seine Stillstandsordnung wurde später für alle thurgauischen Kirchgemeinden wegweisend und prägte das kirchliche Leben bis ins 20. Jahrhundert, wie auch der frühere Gachnanger Pfarrer Christian Herrmann in einem Vortrag beim Reformierten Pfarrverein ausführte. Herrmann lüftet auch das Geheimnis um die Bezeichnung: «Der Name dieses Gremiums kommt daher, dass seine Mitglieder nach dem Gottesdienst vor den für sie bestimmten Stühlen stillstehen mussten, bis alle Gottesdienstbesucher die Kirche verlassen hatten, um sich anschließend im Pfarrhaus zur Sitzung zu treffen.»
Aufgaben vom Staat übertragen
Den «Stillständern» sei vom Staat die Aufgabe übertragen worden, «das sittliche und religiöse Gemeindeleben zu beobachten und zu bewachen». Im Weiteren stand ihnen auch die Aufsicht über das Schulwesen zu.
In der Gachnanger Stillstandsordnung von 1690 hielt Johann Heinrich Lavater fest, dass Stillständer Achtung geben müssten auf «alle und jede, welche in Unglauben und in der Unwissenheit leben, welche auch mit Zauberkünsten umgehen, so auch dem Fluchen und Schwören ergeben sind, die den Gottesdienst liederlich und wenig besuchen, oder auch den Tag des Herrn mit unanständiger Arbeit entheiligen. Auch soll er fleissig gewahren derjenigen heillosen Eltern, welche ein liederliches Hauswesen führen, ihre Kinder in schlechter Zucht halten, oder mit unartigem Leben ihre Kinder und sich selbst in Gefahr und Armut stürzen. Desgleichen auf unartige und schlimme Kinder, Knecht, Magd, besonders auf diejenigen, welche in Liechtstubeten oder nächtlicherweil ärgerlich zusammen wandeln, oder sich lang und gefährlich beieinander aufhalten. Auch soll ein jeder Stillständer eine fleißige Wacht halten auf diejenigen Eheleute, welche miteinander in öffentliches Zerwürfnis geraten.»
Mit seinen Seelenregistern hatte Lavater auch minutiös Buch geführt über seine Gemeindeglieder, woraus unter anderem auch verlässliche Rückschlüsse für die Alphabetisierung der Bevölkerung geschlossen werden konnten, wie einer Forschungsarbeit von Janine Scheurer entnommen werden kann.
Pionier für Brand- und Hagelversicherung
Pionierarbeit leistete Lavater darüber hinaus im Bereich der Brandversicherung. Er entwarf 1716 eine Brandsteuerordnung, die für alle Thurgauer Gemeinden angenommen und verpflichtend wurde. Diese Brandsteuerordnung wurde später zur eigentlichen Grundlage der privatwirtschaftlichen Brand- und Hagelversicherung im Thurgau.
Die Brandsteuerordnung bezweckte gemäss Ausführungen in einer geschichtlichen Abhandlung von Johann Georg Kreis von 1896 die «Ausmittlung eines Brandschadens durch den Ortspfarrer mit Zuzug von einem oder zwei Gemeindevorgesetzten und ebenso die Erhebung der Steuern und deren Vertheilung unter die Beschädigten durch den Ortspfarrer mit Zuzug der Gemeindevorgesetzten».
Stoff für Theaterstück
Jean Grädel hat in einem früheren Medienbeitrag unter anderem festgestellt, dass Lavater zusammen mit anderen bedeutenden Thurgauer Persönlichkeiten und deren starken Frauen im Hintergrund durchaus das Zeug für ein tolles Theaterstück hätten, statt nur in Geschichtsbüchern zu verstauben. Grädel muss es wissen: Der pensionierte Regisseur und Theaterleiter aus Gachnang ist Träger des Thurgauer Kulturpreises.
«Stillstand» brachte Fortschritt