Tamar und die Mauer des Schweigens
Tamar König war 21, klug, schön, und sie wusste, dass beides nicht unbedingt hilfreich war. Besonders nicht in ihrer Familie. Ihr Vater, Richard König, war Stadtpräsident einer Grossstadt. Ein Mann mit Einfluss, Charisma – und sehr langem Schatten.
Ihr Halbbruder, Anton, war ein Jahr älter. Jurastudent, Liebling der Medien, oft mit seinem Vater auf Empfängen. Tauchte er irgendwo auf, so fand sich sein Bild am folgenden Morgen in der Lokalpresse. Meist strahlend und locker. Nach aussen ein Paradebeispiel bürgerlichen Erfolgs und bourgoiser Leichtigkeit. Doch Tamar hatte ihn seit Kindheit anders erlebt – kontrollierend, launisch, latent aggressiv.
«Du solltest dich anders kleiden», hatte er ihr einmal zugeraunt. «Du weisst doch, was du auslöst.» Das war nicht Beschützerinstinkt. Das war Besitzdenken. Der Blick, mit dem er ihren Körper durchbohrte, verfolgte sie noch Tage.
Tamar König lebte in einer kleinen Wohnung, die ihr Vater für sie gekauft hatte – offiziell wegen ihres Kunstgeschichtestudiums, inoffiziell, weil sie sich dem Druck der Familie und dem Leben im Glanzlicht der Medien lieber entzog.
Doch dann kam dieser Tag.
Sommerserie Bibelkrimis
Biblische Geschichten erzählen von zeitlosen Konflikten: Eifersucht, Verrat, Machtmissbrauch. Diese Themen sind heute so aktuell wie einst. In der Sommerserie «Bibelkrimis» macht der «Kirchenbote» aus bekannten Bibeltexten Kriminalfälle der Gegenwart. Dabei zeigt sich: Fragen nach Gut und Böse, Schuld und Vergebung bleiben aktuell.
Jeden Mittwoch erscheint eine neue Folge: Mittwoch, 16., 23., 30. Juli, 6. August und 13. August.
Der Abend
Es war Anton, der sie anrief. Seine Stimme klang heiser, seltsam aufgeregt.
«Ich hab Fieber, Tamar. Ich lieg völlig flach. Könntest du mir was von der Apotheke holen? Und vielleicht kurz vorbeikommen? Ich fühle mich beschissen.»
Tamar zögerte. Anton war selten hilfsbereit, wenn sie ihn brauchte – aber er war ihr Bruder. Familie eben, dachte sie sich, als sie sich den Mantel überstreifte.
Sie brachte ihm die Medikamente. Als sie in seiner Wohnung sass – eine elegante, kalte Dachwohnung in der Altstadt, der Fussboden weiss gefliesst, teure Kunst an den Wänden – bot er ihr Tee an. Sie blieb. Zehn Minuten, zwanzig. Der Tee schmeckte bitter.
Und dann verschwammen die Konturen.
Sie kam zu sich in seinem Schlafzimmer. Ihre Kleidung lag zerknittert am Boden, Anton sass am Bett, kaute an seinen Fingernägeln.
«Es scheint dir gefallen zu haben», sagte er und blickte sie an, unverhohlen, mit dem höhnischen Grinsen im Gesicht, das Tamar seit Kindertagen zur Weissglut trieb. Gerne hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen, ihn angebrüllt, ihm die Augen ausgestochen.
Dazu fehlte ihr jedoch die Kraft. Sie fühlte sich, als wäre sie unter einer Glasglocke. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
«Was hast du getan?»
Er schnaubte.
«Was denn? Na, was denn? Tue nicht so unschuldig. Du hast dich doch an mich geschmiegt! Das war doch keine grosse Sache.»
Keine grosse Sache, sie wollte den Mund aufmachen, ihm ihre Antwort an den Kopf schleudern, doch sie konnte nicht, ihre Worte verstummten, noch während sie sie ausstiess.
Tamar war schlagartig hell wach. Sie sprang aus dem Bett, sammelte ihre Kleider auf dem Fussboden auf und streifte sie sich über. Raus, nur raus, raste es ihr durch den Kopf. Und dann rannte sie, und rannte. Ihre Beine zitterten. Das Zittern würde erst Monate später aufhören.
Die Mauer des Schweigens
Tamar sprach. Erst mit ihrer Mutter, dann mit einer Therapeutin, schliesslich mit der Polizei. Der Schmerz und das Gefühl der Ohnmacht und der Demütigung hörte damit nicht auf.
Die Ermittlungen begannen. Aber etwas war anders. Akten verschwanden. Ein Polizist, mit dem sie sprach, wechselte wenige Tage später die Abteilung.
Ihr Vater liess sie kommen.
Er stand mit dem Rücken zu ihr und blickte angespannt zum Fenster hinaus, als würde er dort im Nachbarhaus etwas erspähen.
«Tamar. Ich glaube dir ja. Aber du weisst, was auf dem Spiel steht. Antons Zukunft. Meine Arbeit. Diese Stadt. Wir brauchen dich jetzt.»
«Ich bin deine Tochter», sagte sie leise.
Er sah sie lange an. Dann sagte er: «Ja. Und deshalb will ich nicht, dass du dein Leben ruinierst. Niemand wird dir glauben.»
Sie ging.
Die Zeugin
Doch dann, unerwartet und plötzlich. Clara, Antons Ex-Freundin, meldete sich bei Tamar – heimlich, über Instagram.
«Es tut mir leid, was passiert ist. Ich weiss, wozu er fähig ist. Ich konnte nur nie darüber reden. Aber wenn du willst … Ich würde aussagen.»
Tamar las die Nachricht nochmals durch, als traute sie den Buchstaben nicht und zögerte. Für Clara war das nicht ohne Risiko. Sie arbeitete als Referentin im Rathaus, war finanziell abhängig.
«Ich kann dich nicht zwingen», sagte Tamar. «Aber du wärst nicht allein.»
Clara sagte zu.
Die Presse
Der Fall geriet an die Öffentlichkeit. Erst ein kleiner Blog, dann ein Artikel im «Tagesspiegel». Anonyme Quellen. Hinweise auf Machtmissbrauch. Die Stadt war elektrisiert. Überall wurde darüber getratscht. Wollte Tamar sich an der Familie rächen?
Anton stellte sich als Opfer dar. «Ich liebe meine Schwester. Aber sie hat ... wie soll ich dies nur ausdrücken … Probleme, erhebliche Probleme. Schon lange und wir wussten es alle. Ich hoffe, sie bekommt Hilfe.»
Der Stadtpräsident schwieg.
In den Gazetten analysierten Experten Tamars Psyche und gute Freunde verrieten die heimlichen Probleme der Königs.
Der Bruder
Jakob war Tamar jüngerer Bruder. 18, still, intelligent. Er lebte noch im Elternhaus und hatte bisher geschwiegen.
Eines Nachts schickte er Tamar eine Sprachnachricht:
«Ich war da. Ich war an dem Abend da. Ich hatte Anton kurz vorher besucht. Ich bin gegangen, als du gekommen bist. Aber ich hab später seine Nachrichten gelesen. Und das Video, das er seinen Freunden geschickt hat. Ich hab Screenshots gemacht.»
Die Nachrichten waren eindeutig. Anton hatte mit der Tat geprahlt.
«Ich krieg sie eh. Die sträubt sich, bis sie nicht mehr Nein sagen kann.»
Tamar sah sich im Video. Und kam sich unendlich klein und beschmutzt vor.
Der Prozess
Die Staatsanwaltschaft klagte an.
Der Prozess war öffentlich. Die Stadt war geteilt. Demonstrationen vor dem Gerichtsgebäude. Hashtag #IchBinTamar, #KeinKönigÜberDemGesetz.
Anton verteidigte sich mit Tränen, teuren Anwälten, alten E-Mails.
Tamar trat ruhig in den Zeugenstand. Ihre Stimme bebte. Aber sie wich nicht zurück. Immer wieder blickte sie Anton in die Augen. Sie wollte standhalten.
Clara sagte aus. Jakob übergab die Screenshots und das Video.
Die Richterin verkündete das Urteil:
«Wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung – drei Jahre Haft. Ohne Bewährung.»
Anton schrie im Gerichtssaal. Drohte und tobte.
***
Tamar sass im Park, als alles vorbei war. Neben ihr lag ein Skizzenbuch. Sie hatte wieder begonnen zu zeichnen.
Jakob setzte sich neben sie.
«Du hast ihn nicht nur angezeigt», sagte er. «Du hast unser Schweigen beendet.»
Tamar nickte. Die Sonne fiel durch die Bäume. Der Wind war warm, fuhr ihr durchs Haar. Es war, als würde sie fliegen.
«Ich wollte nicht stark sein», sagte sie. «Ich wollte nur nicht mehr lügen.»
Epilog
Ein Jahr später. Tamar veröffentlichte eine Graphic Novel: «Tamar». Die Geschichte einer jungen Frau, die sich gegen eine Mauer aus Macht, Angst und Schweigen stellte.
Das Buch wurde ein Bestseller. In Schulen diskutiert. In Talkshows zitiert.
Im Rathaus hing noch immer ein Porträt von Richard König. Aber daneben – in einer Ausstellung über mutige Frauen der Stadtgeschichte – war jetzt ein weiteres Bild:
Eine gezeichnete Tamar. Mit offenen Augen. Und einer Hand, die nicht mehr zitterte.
Tamars Geschichte in der Bibel
Amnon, der älteste Königssohn, ist liebeskrank. Das Ziel seiner Begierde: Die schöne Tamar, die einzige Königstochter! Ein ihm befreundeter Cousin rät: Wenn Du dich krank stellst, darf Tamar für Dich sorgen. Gesagt. Getan. Der Plan steht. Und mit Vaters Zustimmung kommt Tamar. Doch Amnon will nicht ihr Gebäck, sondern SIE. Tamars Reaktion: NEIN! Das wäre Schande für mich und für Dich! Der Vater muss gefragt werden. Amnon ignoriert ihr Nein und vergewaltigt sie.
Ans Ziel gekommen, hat er genug von Tamar. Sie wird vor die Tür gesetzt. Ihre Verteidigung ist Amnon egal. Gewalterfahrung. Demütigung. Sie steht draussen. Im Kleid ihrer vergangenen Jugend. In ihrer Trauer zerreisst sie es und wirft Asche auf ihr Haar. Sie schreit ihren Schmerz heraus. Absalom sieht sie und hat eine böse Ahnung: Amnon...?! «Schwester, bleibe ruhig! Es bleibt ja in der Familie...» Tamars Zukunft: Einsamkeit. Amnon hat ihr Leben zerstört. Als der Vater, König David, davon erfährt, reagiert er zornig. Zur Rechenschaft zieht er den Täter, seinen geliebten Erstgeborenen, jedoch nicht…
Bibeltext zum Nachlesen (2. Samuel 13).
Zu den einzelnen Kriminalfällen bietet die Serie «Biblische Tatorte» des Thurgauer Kirchenboten eine Auslegung. Im Jahr 2025 beleuchtet dieser jeden Monat ein Verbrechen aus der Bibel und fragt: Was sagen uns diese Schauplätze heute?
Tamar und die Mauer des Schweigens