News aus dem Thurgau
EKS-Präsidentin im Interview

Wann haben Sie zuletzt gebetet, Frau Famos?

von Tilmann Zuber, Stefan Degen
min
30.05.2025
Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), spricht darüber, ob sie im Gebet Antworten von Gott erhält. Sie erklärt, was verloren geht, wenn das tägliche Gebet verschwindet, warum sie interreligiöse Gebete kritisch sieht und was sie an reformierten Kirchen stört.

Rita Famos, wann haben Sie zuletzt gebetet?

Gerade eben im Bus, als jemand mit dem Kinderwagen im letzten Moment über die Strasse rannte. Ich dachte: Oh, mein Gott, das wird knapp, bitte kein Unfall!

Beten Sie regelmässig?

Ja, ich versuche es. Beispielsweise am Morgen. Ich halte einen Moment inne, gehe den Tag in Gedanken durch und bitte um Ruhe in schwierigen Situationen und für Menschen, die einen belastenden Tag vor sich haben. Wichtig ist mir das gemeinsame Gebet im Gottesdienst, zum Beispiel zuletzt am Evangelischen Kirchentag in Hannover. Nach harten Podiumsdiskussionen gab es das Nachtgebet, mit Kerzen und Tausenden Menschen auf verschiedenen Plätzen. Es tat gut, zu spüren, dass es etwas gibt, das uns verbindet.

Ich habe viele Gebetsbücher studiert, die in Spitalkapellen aufliegen. Da finde ich viel Ringen mit der Enttäuschung, dass Menschen nicht mehr gesund werden.

Ist ein Gebet Selbstreflexion oder ein Zwiegespräch mit Gott?

Calvin eröffnet die Institutio – sein Hauptwerk – mit der These, dass beides zusammengehört. Ich stimme dem zu. Im Gebet ordne ich meine Gedanken, versuche, Worte zu finden für das, was mich bewegt. Dabei erkenne ich oft, wie es mir geht und wieso mich etwas belastet. Gleichzeitig spüre ich, dass Gott da mittendrin ist.

Bekommen Sie Antworten von Gott?

Nicht im Sinne von «Tu dies oder das». Leider nicht (lacht). Aber manchmal gewinne ich Klarheit und verstehe besser, wo mein Problem liegt. Meine Fragen bleiben, aber sie ausgesprochen zu haben gibt mir Zuversicht und einen Fokus, worauf es ankommt und wo es langgehen könnte.

Was verändert sich durch das Gebet?

Es verändert mich. Ich werde still, lasse den Alltag hinter mir und merke: Ich bin nicht allein mit meinen Fragen und Nöten, mit meiner Freude und meinem Dank. Besonders das Dankesgebet, wie es schon in den Psalmen steht, ist eine unglaubliche Kraftquelle. Es verändert den Blickwinkel. Ich spüre: Es gibt ein himmlisches Du, an das ich mich wenden und dem ich danken kann.

Danken wir heute zu wenig, weil vieles selbstverständlich scheint?

Ja, das glaube ich. Dank meinem Amt komme ich oft in Kontakt mit Kirchen anderer Länder, wo es den Menschen materiell und in Bezug auf die allgemeinen Lebensumstände schlechter geht. Und ich sehe, wie dankbar sie sind. Im Vergleich zu ihnen haben wir die Dankbarkeit ein Stück weit verlernt. Manchmal denke ich, dass wir es verpasst haben, unseren Jungen das Danken und Gotteslob ans Herz zu legen. Es ist eine Quelle der Resilienz. Es macht einen Unterschied, dass man benennt, wofür man dankbar ist: Freundschaften, die Natur, Materielles – es gibt tausend Dinge, für die man dankbar sein kann.

Vereinfacht ausgedrückt: Hätten junge Menschen weniger psychische Probleme, wenn sie mehr Dankgebete kennen würden?

So einfach ist es nicht. Dankbarkeit ist nur ein Teil von Resilienz. Wer sich nur um dieeigenen Probleme dreht, gerät in eine «Problemtrance». Danken hilft, da herauszukommen. Auch in schwierigen Zeiten gibt es Lichtblicke. Diese wahrzunehmen, kann man üben – etwa, indem man in guten Lebensphasen ausspricht, wofür man dankbar ist – und warum dies nicht vor Gott tun?

Die Bedeutung von Ritualen ist heute in allen Erziehungsratgebern bekannt. Sie sind die säkulare Variante unserer Tischgebete, Morgenlieder und Abendsegen.

In der Kirche gibt es zahlreiche Gruppen, die für den Frieden beten, etwa, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Wird die Welt dadurch besser?

Durch die Medien kommen alle Kriege der Welt in unser Haus, in unser Herz und lösen ein Gefühl der Ohnmacht aus. Wir können wenig tun, um die Lage in der Ukraine, in Palästina oder Israel zu ändern, ausser vielleicht Geld zu spenden. Doch das Leid der Menschen berührt uns. Es ist schrecklich, sich vorzustellen, wie jemand im Gazastreifen zum siebten Mal fliehen muss oder in der Ukraine ständig Angst vor Bomben hat. Durch das Gebet legen wir diese Menschen Gott ans Herz und formulieren unsere Sehnsucht nach einer besseren Welt. Wir brechen aus unserer Sprachlosigkeit und Ohnmacht aus. Und merken, dass wir nicht allein sind.

Damit hilft man doch eher sich selbst als den betroffenen Menschen.

Wenn ich Partnerkirchen in Kriegsregionen besuche, etwa im Nahen Osten, bitten sie oft: «Betet für uns.» Das hat mich überrascht. Für sie ist es wichtig, zu wissen, dass wir ihre Situation nicht ausblenden und sie nicht vergessen. Das gibt auch ihnen Kraft. Wir sollten einander viel mehr sagen, dass wir füreinander beten. Das schafft ein grosses, unsichtbares Netz der Verbundenheit untereinander und mit Gott.

Trotz Säkularisierung suchen Menschen Besinnung. Sie zünden Kerzen an, denken an jemanden. Ist der Mensch von Natur aus religiös?

Die Tatsache, dass in Kirchen Kerzen brennen und selbst atheistische Gruppen Orte der Besinnung fordern, zeigt, dass es eine Sehnsucht nach einem Raum für das Unaussprechliche gibt. Sorgen, Nöte und Dank an ein grösseres Du zu richten ist ein tiefes Bedürfnis. Deshalb sollten wir unsere Kirchen öffnen. Es ärgert mich, wenn reformierte Kirchen oft geschlossen bleiben.

Viele beten, wenn sie krank sind. Was, wenn die Heilung ausbleibt? 

Kranke beten nicht nur einfach um Gesundheit. Ihre Anliegen sind vielfältig, es gibt keine «falschen» Gebete. Ich habe viele Gebetsbücher studiert, die in den Spitalkapellen aufliegen. Da finde ich viel Ringen mit der Enttäuschung, dass Menschen nicht mehr gesund werden. Aber auch viel Erkenntnis, dass es ein Heilwerden gibt, ohne gesund zu werden. Oft geht es darum, Abschied zu nehmen, loszulassen, liebe Menschen, die man zurücklässt, Gott anzuvertrauen. Ich habe viel gelernt von diesen Gebeten in den Spitälern.

Wir sollten ehrlich bleiben: Wir alle haben gute und schwierige Gebetsphasen. Gebete, von denen wir den Eindruck haben, sie laufen ins Leere.

Früher betete man vor dem Essen und Schlafengehen. Was geht verloren, wenn solche Rituale verschwinden?

Die Bedeutung von Ritualen ist heute in allen Erziehungsratgebern bekannt. Sie sind die säkulare Variante unserer Tischgebete, Morgenlieder und Abendsegen. Wir Christinnen und Christen sollten mutiger davon erzählen. Das weckt Neugier: «Ihr betet vor dem Essen? Wie macht ihr das? Und betet ihr mit euren Kindern vor dem Schlafengehen?» Solche Fragen sind Chancen, sich darüber auszutauschen, was denn der Unterschied ist zwischen christlichen und säkularen Ritualen.

Worin liegt denn der Unterschied?

Christliche Rituale haben zusätzlich die Dimension des himmlischen Du. Ein christliches Gebet oder Lied bezieht sich nicht nur auf die Familie oder den Kindergarten, sondern auf die weltumspannende Gemeinschaft und Solidarität. Und Bitte und Dank haben einen Adressaten: Christus, der uns zur Seite steht.

Beten ist heute für viele etwas Intimes. Ihnen ist das Thema peinlich.

Wir müssen sicher nicht preisgeben, was wir beten, aber dass und wie wir beten, davon können wir getrost erzählen. Denn Gebet ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Glaubens und unserer Spiritualität. Es gibt ja eine breite Palette von Gebetsformen, von Anlehnungen an die Zen-Meditation bis zum Lobpreis. Darüber sollten wir sprechen – nicht nur Kirchenprofis, sondern alle. Und wir sollten dabei ehrlich bleiben. Denn alle haben gute und schwierige Gebetsphasen. Gebete, von denen wir den Eindruck haben, sie laufen ins Leere, oder Zeiten, in denen wir uns nicht sammeln können.

Heute gibt es auch interrelligiöse Gebete. Was halten Sie davon?

Grundsätzlich finde ich es ein starkes Zeichen, wenn wir es schaffen, interreligiös auch im Gebet zusammenzustehen. Es ist aber herausfordernd, Formen zu finden, bei denen sich niemand verbiegen muss oder eine Einheit beschwört, die es so nicht gibt. Ich erinnere mich an ein eindrückliches interreligiöses Gebet im Zürcher Grossmünster nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs. Es war eher ein Beten nebeneinander: Jede Religion betete in ihrer eigenen Form, wir versuchten, mit den fremden Gebeten mitzugehen, und erlebten darin eine grosse Einheit in unserer Friedenssehnsucht.

Beten wir da zum selben Gott? 

Ich denke ja. Wir haben unterschiedliche Zugänge, aber am Ende beten wir zum selben Gott. Doch auch hier sollte man vorsichtig sein und nicht zu schnell Einheit suggerieren. Im Buddhismus etwa ist es fraglich, ob man überhaupt von einer Gottesvorstellung sprechen kann.

Zum Schluss: Welches Gebet ist für Sie das eindrücklichste?

Das Unservater. Es entstand vor 2000 Jahren im Nahen Osten, vermutlich durch Jesus oder Traditionen, die auf ihn zurückgehen. Seither wird es weltweit gebetet und verbindet uns Christenmenschen durch Raum und Zeit. Den Gedanken, Teil dieser Tradition zu sein, finde ich ergreifend. Es gibt auch Möglichkeiten, das Patriarchale im Unservater aufzuweichen. Zum Beispiel, wenn wir «Mutter, Vater im Himmel» beten statt «Unser Vater im Himmel». Aber auch andere Gebete bedeuten mir viel, etwa von Augustinus, Niklaus von Flüe oder Dorothee Sölle. Es ist schön, auf andere Gebete zurückzugreifen, wenn man selbst keine Worte findet, quasi aufgenommen zu sein in einem Gebetsteppich, der über Jahrhunderte gewoben wurde.

Pfarrerin, Fernsehpredigerin, EKS-Präsidentin

Rita Famos studierte in Bern, Halle (DDR) und Richmond (USA) Theologie und war Pfarrerin in Uster und Zürich. Von 2009 bis 2011 war die heute 59-Jährige Sprecherin des «Worts zum Sonntag». 2013 wurde sie Abteilungsleiterin Spezialseelsorge der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich. Seit 2021 ist sie Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) und seit 2024 zusätzlich Präsidentin der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).

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