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Interview Klaus Hamburger

Zum 20. Todestag von Frère Roger: «Meine Kirche ist die mit dem Sprung»

von Vera Rüttimann
min
15.08.2025
Frère Roger wurde am 16. August 2005 während des Abendgebets in Taizé ermordet. Klaus Hamburger, der 36 Jahre lang als Frère Wolfgang zur ökumenischen Gemeinschaft gehörte, blickt im Gespräch auf diesen Tag zurück, würdigt das Vermächtnis des Gründers und schildert, wie Taizé sein Leben prägte.

Klaus Hamburger, wie erinnern Sie sich an den 16. August 2005? 

Frère Alois und einige Brüder waren beim Weltjugendtag. Niemand ahnte, was geschehen würde. Etwa 3000 Menschen waren an diesem Tag in Taizé. Zum ersten Mal in der Geschichte der Taizé-Gesänge wurde ein Abendgebet gewaltsam unterbrochen. Ein Schrei ertönte, vermutlich von der Attentäterin. Frère Roger selbst blieb stumm. Er war alt und schwach und sass wie immer ganz hinten. Niemand wusste sofort, was passiert war.

Sie sagten einmal, es sei ein «passender Tod» gewesen. Was meinten Sie damit? 

Frère Roger sass völlig ungeschützt unter den Menschen. Damit setzte er ein Zeichen: Gastfreundschaft statt Abschottung. Er wollte Nähe, keine Sicherheit. Es ging ihm um die Menschen. Genau das hat mich an ihm und an Taizé fasziniert.

Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich damals wie ein Lauffeuer – auch beim Weltjugendtag in Köln. 

Viele erzählen mir noch heute, wo sie damals davon erfuhren. Sein Tod hat viele tief getroffen. In der St.-Agnes-Kirche, wo die Brüder während des Weltjugendtags beteten, sassen Menschen mit Tränen in den Augen. Plötzlich war der halbe Weltjugendtag innerlich in Taizé.

Wie haben Sie die Beerdigung von Frère Roger erlebt? 

Es war ein überwältigender Tag, der zeigte, wie viele Menschen Taizé berührt hat. Der deutsche Bundespräsident war da – eine Referenz für die enge Verbindung von Taizé zu Deutschland. Kardinal Walter Kasper hielt die Totenmesse, unter Beteiligung von evangelischen Würdenträgern. Besonders bewegend war der Moment, als wir Brüder den Holzsarg durch die Menge trugen. Da spürte man, wie sehr Frère Roger die Herzen erreicht hatte.

 

Frère Wolfgang am Lichterfest 2006.| Foto: zvg

Frère Wolfgang am Lichterfest 2006.| Foto: zvg

 

Was für eine Person war Frère Roger für Sie? Gibt es Momente, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind? 

Er war ein Gefährte. Ich fühlte mich als Teil der grossen Geschichte namens Taizé. Zwei Erlebnisse bleiben unvergesslich: 1976, kurz bevor ich für vier Wochen in die DDR reiste, malte mir Frère Roger in der Versöhnungskirche ein Kreuz auf die Brust. Ich war damals noch kein Bruder. Das drückte unsere Verbundenheit aus. Ein anderes Mal traf ich ihn nachts in der Küche. Er konnte nicht schlafen. Da habe ich gemerkt, wie viel auf ihm lastete. Er hat es mir ohne viel Worte anvertraut.

Was bleibt von Frère Rogers Gedanken und Ideen lebendig? 

Sein Buch «Kampf und Kontemplation» ist für mich zentral. Darin steht: «Willst du tief beten, musst du hart arbeiten.» Andersherum betrachtet: Wenn ich eine Revolution, wirkliche Erneuerung, anzetteln will, muss ich ein spirituell lebendiger Mensch sein, sonst führe ich Menschen in den Abgrund.  Diese Einsicht ist bis heute gültig.

Und Frère Roger hat auch die Wortlastigkeit der Kirche durch Stille, Gesang und Nachdenken ersetzt. Anfangs stiess das auf Widerstand. Ein Liturgiker sagte einmal: «Das ruiniert unser geistliches Leben!» (lacht). Doch die repetitiven, meditativen Gesänge und die Stille haben sich weltweit durchgesetzt – bis in die Synoden des Vatikans. Ihre Anziehungskraft ist mit der von traditionellen Wallfahrten vergleichbar.

Wie hätte Frère Roger auf die Krisen unserer Zeit reagiert? 

Im Zweiten Weltkrieg versteckte er verfolgte Juden in Taizé, später bewirtete er deutsche Kriegsgefangene und gewährte ihnen Gastfreundschaft. Er baute Brücken nach Ostdeutschland und Osteuropa. Angesichts des Nahostkonflikts ist diese Handlungsweise aktueller denn je. Er hätte gesagt: «Hört auf, euch zu bekämpfen. Es hat keinen Sinn. Setzt euch an einen Tisch.» So hätte Frère Roger auch heute gedacht und gewirkt.

Wissen junge Menschen noch, wer Frère Roger war? 

Das ist schwer zu sagen. Zu meinen Lesungen kommen eher Ältere. Ich habe es aber geschafft, dass das bayerische Kultusministerium eine Lehrerfortbildung in Taizé ins Programm aufnahm. Das wirkt bis heute: Jugendliche reisen mit ihren Lehrern nach Taizé.

Was haben Sie aus Ihrer Zeit in Taizé in Ihre seelsorgerische Arbeit mitgenommen? 

Sehr viel. Zwei Dinge besonders: Als Justizseelsorger hielt ich in der JVA Koblenz Wortgottesdienste, bei denen wir bis zu sieben Minuten schwiegen. Das zog viele an, auch Bedienstete. Zweitens das Singen: In der Untersuchungshaftanstalt sang ich a cappella, allein, oft Lieder mit Texten von Paul Gerhardt. Das ging den Leuten sehr nahe.

 

Klaus Hamburger verliess 2011 die Gemeinschaft in Taizé und arbeitete danach als Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt Koblenz. | Foto: zvg

Klaus Hamburger verliess 2011 die Gemeinschaft in Taizé und arbeitete danach als Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt Koblenz. | Foto: zvg

 

Das waren Taizé-Momente. 

Ja, und mehr. Auch eine Gefängniskapelle ist ein heiliger Ort, weil Menschen dort ihre Lasten ablegen. Frère Roger hat gezeigt: Der christliche Glaube entfaltet sich, wenn man vom Menschen ausgeht. Er hatte eine tiefe Achtung vor denen, die sonst niemand beachtet. Gefängnis und Krankenhaus sind Orte, an die niemand will – und an denen man schneller ist, als man denkt.

Sie nennen Frère Roger einen «Anstifter für die Kirche von morgen». Was meinen Sie damit?

Glaubenseiferer warfen uns vor: «Ihr habt die Jugendlichen vor der Flinte, sie fressen euch aus der Hand, aber ihr macht nichts daraus!» Ich dachte: Was für ein armseliger Blick! Nach Taizé kann jeder mit seinem Horizont und seinem Standpunkt kommen, niemand wird zurechtgestutzt. Taizé war immer ein Ort zwischen den Stühlen – genau da wollte Frère Roger sein.

Ein unbequemer Ort?

So ist es. Frère Roger sagte: «Genau da müssen wir sein!» Deshalb bin ich zuversichtlich für die Kirche.  Wenn die Kirche angekommen ist, wenn sie ihre Form pflegt und wohl gekleidet ist, dann wird es langweilig. Lieber soll sie verbeult sein, wie Papst Franziskus sagte. Dieses Wort war für mich die Fortsetzung von Frère Rogers Gedanken. Wenn wir zu einer Salon-Kirche zurückkehren, sind wir auf dem Holzweg. Meine Kirche ist die, die einen Sprung hat. Sie ist für alle zugänglich.

 

Klaus Hamburger (geb. 1953) lebte 36 Jahre in der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé. Dort betreute er deutschsprachige Gäste, war für Publikationen verantwortlich und organisierte die «Nächte der Lichter». Nach seinem Weggang 2011 arbeitete er als Seelsorger in einer Klinik und einer Justizvollzugsanstalt. Heute ist er als Autor, Übersetzer und Referent tätig.

Sein Buch «Danke, Frère Roger» ist ein persönlicher Dank an den Gründer von Taizé, den er als «Gottsucher, Liebenden und Zweifelnden» beschreibt.

Bene! Verlag, 2024, CHF 21.90

Vera Rüttimann, die Autorin dieses Textes besuchte Taizé erstmals 1986 und berichtete mehrfach von dort. 2005 reiste sie vom Weltjugendtag in Köln direkt nach Taizé, um über die Beerdigung von Frère Roger zu berichten.

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