Die Angst der Kirchen vor der «Arena»
Am 28. Februar kommen vier Vorlagen zur Abstimmung, drei davon haben direkte ethische Bezüge. In der CVP-Initiative «Gegen die Heiratsstrafe» schwingt die Frage nach dem «richtigen» Modell des Zusammenlebens von Paaren mit, es geht um Humanethik. Bei der Durchsetzungsinitiative der SVP steht mit der Ausländergesetzgebung eine sozialethische Frage im Zentrum. Und die Initiative «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln» aus Juso- und Hilfswerkkreisen will den Hunger in der Welt vermindern und fragt, welche Wirtschaftsethik wir in einer globalisierten Welt wollen. Auch die vierte Vorlage zur zweiten Gotthard-Tunnelröhre hat mit der Umweltpolitik am Rand einen (schöpfungs-)ethischen Bezug.
Ethik ist eine Kernkompetenz der Kirchen, und den Menschen daraus Entscheidungshilfen aus christlicher Sicht zu geben ist einer ihrer Kernaufträge. Die Kirchenleitungen äussern sich denn auch regelmässig zu politischen Vorlagen. Bei der Februar-Abstimmung tut dies der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) zur Durchsetzungsinitiative und der Heiratsstrafe-Initiative, die Schweizerische Bischofskonferenz (SBK) äussert sich lediglich zur CVP-Initiative. Vonseiten der Hilfswerke gibt es Stellungnahmen zur Spekulationsstopp-Initiative. Die Frage ist aber: Welchen Einfluss haben diese Beiträge auf die Meinungsbildung der Stimmberechtigten? Und wie systematisch ist die Stimme der Kirchen bei der Meinungsbildung zu politischen Fragen zu hören?
«Schafe» folgen «Hirten» nicht
Zur zweiten Frage ist 2009 eine Nationalfondsstudie erschienen, welche die Beteiligung von Religionsgemeinschaften in der Meinungsbildung vor Abstimmungen in den 30 Jahren zuvor untersucht. Sie kommt zum Schluss, dass die Einflussnahme der Kirchen in Vorlagen zu Schwangerschaftsabbruch, Asyl- und Ausländerfragen und dem Verhältnis Kirche und Staat konstant war. Ein Fazit der Forscher ist daher: «Den Entkirchlichungstendenzen in der Bevölkerung entspricht somit bis jetzt noch kein Relevanzverlust auf der Ebene der politischen Bühne.»
Die Studie bescheinigt den Kirchenleitungen also, ihre Hausaufgaben in Sachen politischer Einflussnahme zu machen.
Allerdings stellt Judith Könemann, Professorin für Praktische Theologie und bei der Studie leitend beteiligt, fest: «Eine Schwierigkeit wird für die Kirchen in Zukunft grösser werden, nämlich: Inwieweit vertreten Kirchenleitungen ihre Mitglieder?
Beim Thema Asyl- und Ausländergesetzgebung folgten beispielsweise die reformierten Mitglieder nicht der Position der Kirchenleitung.» Im Klartext: Während der SEK etwa die Minarett-Initiative ablehnte, stimmten reformierte Kirchbürger durchaus zu.
Beschleunigungsschübe
Die NFP-Studie hat allerdings zwei schwerwiegende Mängel: Erstens berücksichtigt sie lediglich Printmedien, zweitens sagt sie nichts über den tatsächlichen Einfluss. Sie untersucht quasi die Kommunikationswelt der Vormoderne. Denn diese hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren grundlegend verändert.
«In den 1990er-Jahren hat der Aufstieg des Fernsehens zum Leitmedium stattgefunden. Damit einher ging eine Polarisierung und eine Personalisierung in der politischen Berichterstattung», sagt der Politologe Lukas Golder von gfs.bern. Die politische Bühne wurde damit wie die gleichnamige Fernsehsendung zur «Arena» mit weitreichenden Folgen für die Akteure. «Stimmen ausserhalb dieses Polarisierungs-Personalisierungs-Schemas werden kaum wahrgenommen.»
Mit den elektronischen Medien wurde die Berichterstattung enorm beschleunigt. Gegenwärtig geschieht mit den sozialen Medien ein zweiter Beschleunigungsschub, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind. Information und Meinungsbildung erfolgen in hohem Mass über Gratiszeitungen und elektronische Medien, daher gilt für Golder: «In den letzten vierzig Jahren hat ein dramatischer Zerfall von Milieus stattgefunden, die wesentlich zur politischen Meinungsbildung beigetragen haben. Dazu gehören auch die kirchlichen Milieus, insbesondere das katholische.»
Gesucht: Köpfe für polarisierte Welt
Das bedeutet: Wer im Konzert der öffentlichen Debatte gehört werden will, muss nach deren Regeln funktionieren. «Weil sich aber die Kirchen dem Polarisierungs-Personalisierungs-Trend verschliessen, ist ihre Stimme in der Phase der Meinungsbildung vor einer Abstimmung mehr oder weniger bedeutungslos. Sie erreichen mit den heutigen Verlautbarungen nur noch ihr Restmilieu», sagt Golder. Und fügt an: «Das ist schade.» Denn: «Die Kirchen haben ein riesiges Mitgliederpotenzial und hätten gerade in der Asylpolitik, einem Kernthema des Christentums, viel zu sagen.»
Wie gross dieses Potenzial ist, zeigt diese Zahl: Die Reformierte Kirche des Kantons St. Gallen hat mit 90 000 Mitgliedern gleich viel wie die SVP der gesamten Schweiz.
Wollen die Kirchen ihre Möglichkeiten umsetzen, müssen sie bei der Kommunikation die Ängstlichkeit vor der «Arena» und dem Boulevard ablegen. «Um in der öffentlichen Auseinandersetzung gehört zu werden, müssten die Kirchen Persönlichkeiten aufbauen, die sich von der Polarisierung nicht kopfscheu machen lassen und pointierte Positionen vertreten.»
Daniel Klingenberg
Die Angst der Kirchen vor der «Arena»