News aus dem Thurgau

Die Besucher

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20.11.2020
In dieser kurzen Weihnachtsgeschichte handelt es von einem Stadtpark, in dem der kleine See einfror und zu einem Eisfeld wurde. Von überall kamen Menschen und schauten den Tänzerinnen und Tänzern zu, wie sie über das Eis schwebten.

Es war zu der Zeit, in der die Nächte lang und klar, die Tage kurz und trübe sind. Der Stadtpark lag einsam da. Der kleine See war zugefroren. Eine späte Sonne mühte sich, den Dunstschleier aus den Baumkronen zu vertreiben. Gemach tanzten vereinzelte Schneeflocken vom Himmel. Katzen staunten hinter Eisblumenfenstern. Erst gegen Mittag stellten sich Spaziergänger ein. Sie hatten sich in dicke Jacken und viel wollenes Zeug gehüllt, aber die Kälte kroch an Beinen und Armen hoch. Der Schnee knirschte unter den Schuhen. Die Atemluft zeichnete kurzlebige Wölkchen vor ihnen her, und ihre starren Gesichter schienen zu bereuen, dass sie sich aus der warmen Stube gewagt hatten. Jemand sagte: «Saukalt.» Auf einmal eine Kinderstimme: «Schau! Schau! Eistänzer! Oh!» In der Tat hatte sich der kleine See unmerklich in eine Tanzfläche verwandelt, keiner wusste wie. Darauf bewegten sich Paare, die Herren in farbigen Joppen und Hosen, die Damen in kühn schwingenden, glockenförmigen Röcken und mit kecken Hüten, von denen weisse Bänder flatterten.

Die Spaziergänger hielten inne, fasziniert von dem, was sich vor ihren Augen wie ein Gemälde auftat: der eisblaue See, welcher jetzt wie ein Juwel die Sonnenstrahlen einfing, die Alleebäume, die einen rostglitzernden Vorhang bildeten und die bunten Gewänder, welche in grosszügigen Bögen übers Eis schwebten. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegten sich in vollendeter Harmonie und nach einer Musik, die offenbar tief in ihnen erklang – denn die Spaziergänger hörten keine. Dann, unversehens, lösten sich die Paare in lauter Einzelne auf, welche sich allesamt, wie auf höhere Anordnung, dem Ufersaum zuwandten und mit freundlichen Gesten die Zuschauer einluden mitzutanzen.

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Die Familie mit den drei Kindern schaute unschlüssig auf die überraschende Szenerie. Zwar spürten die Eltern grosse Lust aufs miteinander Tanzen, was sie seit langem nicht mehr getan hatten. Jedoch vorsichtig, wie Eltern nun einmal sind, erwogen sie zunächst das Für und Wider, stellten fest, dass sie keine Schlittschuhe dabei hatten, fragten sich, ob die Kinder ausreichend Eislaufunterricht genossen hatten und argwöhnten, ob die Eisdecke wirklich tragfähig sei. Aber da liefen ihre Kinder bereits mit vielen anderen, Gross und Klein, die sich ebenfalls ein Herz gefasst hatten, aufs Eis zu. Wie von selbst fanden alle ein Gegenüber, setzten sich paarweise in Schwung als ob sie Flügel hätten und flogen dahin; fort von Stockung und Starre, drehten sich kühn um die eigene Achse, um dann sanft und weiträumig entfliessen zu lassen, was Anlauf und Wirbel gewesen. Es war ein Sog, dem sich auch die Zögerlichsten nicht entziehen konnten, und selbst Stolperer stolperten nicht, sondern glitten unbekümmert über das Eis. Fröhliches Zurufen und Lachen lösten einander ab – und alle schienen sie der verbor- genen Melodie zu gehorchen.

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Wer dann mit leuchtendem Gesicht und etwas benommen vom Drehen aufs feste Land zurückgekehrt war, traf auf kleine Scharen von Menschen, die nahe beisammen standen und werweissten, wie denn alles gekommen sei? War es ein Hirngespinst? Ein Traum? Illusion? Aber dass sie sich jetzt ganz leicht fühlten die Einen, geborgen die Anderen, warm ums Herz die Dritten und friedvoll alle? Während man noch hin und her rätselte, waren die geheimnisvollen Besucher ebenso plötzlich verschwunden wie sie gekommen waren. Das Mädchen, welches die Eistänzer als erstes gesehen hatte, hörte lange zu. Dann sagte es leise: Es waren Engel. Der Seine, fügte es bei, habe ihm geflüstert, die Engel spürten manchmal ein unbändiges Verlangen, mit den Menschen zu tanzen, dass diese aber nur wenig Gelegenheit dazu böten. Weil Engel in jener Zeit für blosse Märchenfiguren gehalten wurden, achtete niemand auf diese Worte. Das Mädchen jedoch wusste: Es ist wahr. Es lächelte still vor sich hin, und wer sein Lächeln sah, konnte nicht anders als es mit ihm zu teilen.

 

(Walter Büchi)

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