News aus dem Thurgau

«Du bist ein Gott, der mich sieht»

von Cyrill Rüegger
min
15.04.2023
Der ehemalige Pfarrer Peter Schüle erklärt, was die Jahreslosung 2023 mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina zu tun hat.

In Genesis 16,13 ist die Jahreslosung 2023 zu finden: «Du bist ein Gott, der mich sieht.» Der biblische Zusammenhang, aus dem diese Aussage hervorgeht, sei alles andere als eine unproblematische Geschichte, schreibt Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), in ihrer Botschaft zur Jahreslosung: Sara, die Frau Abrams, kann keine Kinder mehr bekommen. An ihrer Stelle soll ihre Dienerin Hagar zusammen mit Abram die Nachkommenschaft sichern. Jedoch: Kaum ist Hagar schwanger, wird Sara eifersüchtig. Sie quält ihre Dienerin, bis diese es nicht mehr ertragen kann und flieht.

Auf der Flucht erscheint Hagar ein Engel, der sie zu Sara zurückschickt, ihr aber gleichzeitig eine grosse Nachkommenschaft verspricht und einen starken Sohn, den sie Ismael nennen soll: Gott hört. Darauf spricht sie Gott als El Roi an: «Du bist ein Gott, der mich sieht», und kehrt zurück in die konfliktschwangere Situation im Hause von Abram und Sara. Sie geht als eine von Gott Gesehene zurück: Sie ist zuversichtlich, dass sie allen Schikanen zum Trotz einen gesunden, starken Jungen gebären wird. Gott sieht sie nicht nur, sondern hat sie «ersehen». Sie ist ausgewählt. Sie hat einen Platz in der Welt, den ihr Sara nicht streitig machen kann. Gottes Zusage gilt – komme, was wolle. Die Umstände mögen grauenhaft sein. Aber Hagar ist mehr, als diese Umstände ihr suggerieren, und Gott kommt mit ihr ans Ziel.

«Die Aussage stammt nicht von einer Christin oder Jüdin, sondern von Hagar, der Urmutter von Arabern, Moslems und Palästinensern», sagt der ehemalige Sirnacher Pfarrer Peter Schüle. «Und sie sagt das nicht in einer Kirche, sondern auf der Flucht in der Wüste.» Dass Gott die Schreie der Unterdrückten höre, sie vor dem Verdursten rette und die fremde Sklavin dieses Glaubensbekenntnis finden lasse, zeige die Weite des Alten Testaments auf.

Ihm sei die Jahreslosung sofort in den Sinn gekommen, als er Ende Februar 2023 vom Überfall israelischer Siedler auf das palästinensische Dorf Huwara erfahren habe, sagt Peter Schüle, der 2009 selbst als Friedensbeobachter in der Region war. «Huwara ist dadurch zu einem weiteren Ort der Unterdrückung geworden, wie sie Hagar erlebt hat.»

 

Am Sonntag, 21. Mai 2023, findet in der evangelischen Kirche in Steckborn ab 19 Uhr ein Gottesdienst zur Jahreslosung statt. Danach wird der Film «Eine israelisch-palästinensische Dorfgeschichte» gezeigt.

 

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