News aus dem Thurgau

Pilgern für die Seele

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23.03.2022
Die Strategien zum Aufladen der eigenen «Batterien» sind so individuell wie die Menschen. Die Religionspädagogin Marika Kussmann-Sopko beobachtete, dass auch das Pilgern dazugehört und ist diesem Phänomen näher auf den Grund gegangen.

«Ich bin dann mal weg!» Diesen Satz hörte Marika Kussmann-Sopko häufiger. «Personen, die sich oft explizit als ‹nicht religiös und nicht kirchenzugehörig› outeten, kündigten so ihre bevorstehende Pilgerreise an», berichtet die Religionslehrerin mit 13-jähriger Berufserfahrung. Der «Pilger-Boom» machte sie neugierig. Darum widmete sie ihre Masterarbeit im Weiterbildungsstudiengang «Spiritual Care» der Frage, inwiefern Pilgern, so, wie es heute oft praktiziert wird, als selbstverordnete und selbstgestaltete «Spiritual Care», also als «Selbstsorge für die Seele» verstanden werden kann.

Lange Tradition
«Pilgern ist ein fester und identitätsstiftender Bestandteil in den Weltreligionen. Es scheint ein urmenschliches und universales Bedürfnis zu geben, sich dem Göttlichen, dem Höheren zu Fuss und aus eigener Kraft zu nähern. Die leibliche Erfahrung spielt dabei eine wichtige und verbindende Rolle in allen Weltreligionen», erläutert Kussmann. Sie selbst hat sich in ihrer Forschungsarbeit auf die christliche Tradition beschränkt und stellt fest, dass die alten Mütter- und Vätergeschichten und auch die Jesustraditionen – «Ich bin der Weg…» (Joh 14,6) – eindrücklich von den Wegen der Menschen mit Gott erzählen. An die Stelle des Pilgerns zum Tempel trat nach dessen Zerstörung 70 nach Christus in christlicher Tradition das Reich Gottes und der Lebensweg dorthin als «Pilgerreise».

Wechselvolle Geschichte
In der Kirchengeschichte erfuhr das aktive Pilgern Aufschwünge und Krisen. Luthers «Lass raisen, wer da will, bleib du daheim!» war Ausdruck seiner Ablehnung jeglicher Werkgerechtigkeit und der Betonung «Allein aus Gnade!» Aktives, leibliches Pilgern blieb für lange Zeit Sache der katholischen Kirche. Den Evangelischen blieb das «Pilgern im Geiste»: «Ein Tag, der sagt dem andern, mein Leben sei ein Wandern zur grossen Ewigkeit…» (Paul Gerhardt (1607-1676). Heute wird das Pilgern auf neue Weise auch hier entdeckt. «Für mich persönlich steht beim Pilgern das Herz im Zentrum», so Marika Kussmann. «Und der Wunsch, vielleicht auch eine Sehnsucht, um Gott zu kreisen und beim Gehen einfach nur da zu sein.»

Heilsamer Spaziergang
«Gehen ist des Menschen beste Medizin», so Hippokrates (460–360 vor Christus). «20 Minuten braucht es, mehr nicht», sagt Kussmann nicht zuletzt mit Blick auf die Erfahrungen in der Pandemiezeit, die auch das Pilgern erschwerte. Und es muss auch nicht «das Pilgern am Stück» sein. «Kleinere Etappen sind auch in der Schweiz praktisch vor der Haustüre zu finden und bedürfen keiner grossen Organisation. Es ist wunderbar einige Stunden auf den alten Pilgerwegen zu gehen und dem eigenen Rhythmus Raum zu geben», so Marika Kussmann. Und wenn es terminlich eng wird? «Dann hilft mir auch ein inneres Gehen an meinen Herzensort, um wieder Kraft und Ruhe zu schöpfen.»

Pilgern als Stressprävention
Gepilgert werde heute oft fern der kirchlichen Tradition. «Dennoch drücken die Pilgernden ihre Erfahrungen mit religiösen Worten aus und noch viel spannender ist die Tatsache, dass das Pilgern sich nachhaltig als Bewältigungsstrategie in Krisen erweist. Viele Pilgernde berichten davon. In diesem Sinne kann das auch als Gesundheitsprävention verstanden werden – auch im pädagogischen Berufsfeld, in dem doch eine hohe Fluktuation auszumachen ist, die oft mit Dauerstresserfahrungen begründet sind», so Kussmann. Wichtig wäre es ihres Erachtens, dass «spirituelle Gesundheit» professionell thematisiert werde. Das aktuelle Phänomen des Pilgerns zeige eindeutig, dass den spirituellen Bedürfnissen heute zu wenig Beachtung geschenkt werde. «Hier aber liegt eine Ressource, die es zu fördern und gesellschaftlich zu bedenken gilt. Spiritualität ist – nicht nur in Schulen – ein Thema für Leitungsgremien», betont sie. «Eine breite Diskussion über Spiritualität in der Gesellschaft sowie eine mutige Umsetzung und Konkretisierung in Leitsätzen scheinen, mir unerlässlich.»

Weitere Informationen zum Studiengang «MASSc Spiritual Care» an der Universität Basel sind zu finden unter https://spiritual-care.weiterbildung.unibas.ch/de/


(Karin Kaspers Elekes)

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